Wie unterscheidet sich eigentlich eine Zwangsheirat von einer Zwangsehe? Wann wird  von Arrangement gesprochen und wo fängt Zwang an? Diese Differenzierungen sind gerade bei möglichen Massnahmen wichtig.

Insgesamt unterscheidet die Fachstelle Zwangsheirat zwischen neun Formen der Heirat. Welche Übergänge und Nuancen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung bei diesen Heiratsmodi vorkommen, wird hier näher erklärt.

Verwandtschaftsbasierte Geschlechtergewalt

Verwandtschaftsbasierte Geschlechtergewalt (kin-based gender violence, kurz: Verwandtschaftsgewalt) beruht auf von traditionalistischen, familialistischen und rigiden Geschlechterrollen geprägten, moralischen Normensetzungen. Kennzeichnend ist die erweiterte Tatpersonenschaft: Über die Eltern hinaus sind Mitglieder der Familie und Verwandtschaft involviert. Im Migrationskontext ist bezüglich der bei einer Zwangsheirat potenziell involvierten Personen die hohe transnationale Verflechtung zu berücksichtigen. Ein Onkel in England kann ebenso Druck auf eine*n Betroffene*n aufsetzen wie die Grossmutter im Herkunftsland, indem sie sich etwa vor Ort nach möglichen Partner*innen umsieht. Auch findet eine Auflösung der stereotypen Geschlechterdichotomien bezüglich Gewaltausübung und -erfahrung statt: Frauen, Mütter und Schwestern sind oftmals Druckausübende und auch Männer können betroffen sein.

Heirat und Zwang

Eine Heirat ist grundsätzlich immer von Normen und Erwartungen der Gesellschaft und des Umfeldes geprägt. Aber wenn diese Erwartungen die bestimmenden Faktoren werden, welche die Wünsche der Individuen ignorieren, dann können Zwänge und Bürden rund um Heirat und Partner*innenwahl auch zu Zwangsheiraten führen.

Heiratsbürden – einschränkende Normen

Als Heiratsbürden bezeichnen wir bestimmte Normen in Bezug auf Heirat und Ehe: wann und wie soll geheiratet werden und wer kommt dafür in Frage? Hierzu gehören der Heiratszwang, folglich der Zwang, überhaupt heiraten zu müssen, die Norm der Gegengeschlechtlichkeit, Vorgaben betreffend dem Alter der Ehegatt*innen, der Umgang mit Sexualität und die Norm der Endogamie, was bedeutet, dass ein Partner oder eine Partnerin nur innerhalb der eigenen Herkunftsgruppe gewählt werden darf. Diese Vorgaben können Heirat und Ehe sowie die Wahl des Ehegatten oder der Ehegattin einschränken und damit Zwangsheiraten begünstigen.

Heiratszwang – der Zwang zu heiraten

Wenn ein Paar zusammenleben will, muss es heiraten. Dies ist die Auffassung in manchen traditionalistisch geprägten Gemeinschaften. Dort gilt die Ehe als einzige anerkannte und erstrebenswerte Form, wie Frauen und Männer zusammenleben dürfen.

Es existiert dabei keine Wahlmöglichkeit, ob jemand überhaupt heiraten möchte oder eine andere Lebensform vorziehen würde: ein Single-Leben oder eine eheähnliche Partnerschaft – in der Schweiz Konkubinat genannt – sind in solchen Gemeinschaften verpönt.

Norm der Gegengeschlechtlichkeit (Heteronormativität)

Ein Paar setzt sich aus Mann und Frau zusammen. Trotz der Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder der Heiratsmöglichkeit von homosexuellen Paaren dominiert die Norm der Gegengeschlechtlichkeit in einer Ehe als Form des Zusammenlebens in fast allen Ländern. Homosexuelle oder andere Beziehungsformen gelten folglich als «Abweichung» und Personen, die ihre Bedürfnisse auf diese Weise ausleben, werden nicht selten ausgegrenzt.

Zu alt, um zu heiraten?

Bei Heiratsentscheiden spielt auch das Alter eine Rolle. In einem gewissen Alter noch nicht verheiratet zu sein, vermindert vor allem bei Frauen die Chancen auf einen Heiratspartner. Sie können zu «Übriggebliebenen» werden. Die Autorin und Sozialwissenschaftlerin Elif Shafak schreibt in ihrem Buch «Ehre» über ihre Protagonistin Jamila, die nie geheiratet hat: «‹Mit zweiunddreißig Jahren lag das beste Alter hinter ihr, vom Heiratsalter ganz zu schweigen. Um eine Familie zu gründen, war es zu spät. Ein trockener Schoß ist wie eine verfaulte Melone: von außen ansehnlich, aber innen ausgedörrt und zu nichts mehr zu gebrauchen›, sagten die Bauern über Frauen wie sie.»

Weiter besteht die gesellschaftliche Norm – welche auch in nicht-traditionalistischen Gesellschaften noch immer weit verbreitet ist – dass in der Partnerschaft die Frau jünger sein sollte als der Mann.

Zeitpunkte mit Zwangssituationen (bei Frauen «3 Wellen»)

Betreffend Alter: Heiratsbürden für Frauen in 3 Wellen

  1. Welle 18 Jahre (Ehemündigkeitsalter in der Schweiz)
  2. Welle 23 Jahre (ideales Heiratsalter aus Sicht vieler Gemeinschaften)
  3. Welle 26 Jahre (danach «Übriggebliebene» oder «alte Jungfern»).

Heiratsbürden - 3 Wellen

Sexualität nur in der Ehe?

Die Heirat soll verhindern, dass es zu vor- und ausserehelichem Geschlechtsverkehr kommt. Dieser ist in manchen traditionalistisch-konservativ geprägten Gemeinschaften verpönt. Insbesondere die weibliche Sexualität wird kontrolliert und der Jungfräulichkeitskult gepflegt. Eine (Zwangs-) Heirat befreit die Familien von dieser Kontrollpflicht. Sie kann auch als Disziplinierungsmassnahme gesehen werden. Besonders wenn Eltern es schwierig finden, die Befolgung der Sitten ihrer Kinder im Wohnland Schweiz, in einer bezüglich Sexualität liberaler eingestellten Mehrheitsgesellschaft, zu wahren.

Gebote und Verbote rund um Endogamie

Wenn jemand nur innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft, der eigenen ethnischen oder sprachlichen Herkunftsgruppe heiraten darf, wird von einem Endogamiezwang gesprochen. Eine arrangierte Ehe wird anhand der Kriterien organisiert, die betreffend der Partner*innenwahl wichtig sind. Beispielsweise existieren im tamilischen Gebiet Jaffna in Sri Lanka 216 Kasten und es darf nur innerhalb der eigenen Kaste geheiratet werden. Diese enge Orientierung kann zu Zwangsverheiratungen führen.

Oft wehren sich Betroffene gegen Endogamiezwänge dann, wenn ein Liebesverbot im Spiel ist. Von diesem Trilemma können auch Schweizer und Schweizerinnen ohne Migrationshintergrund mitbetroffen sein – ein Zwang, zwei Beziehungen, drei involvierte Personen: Eine Betroffene hat «den falschen Freund», der nicht denselben ethnischen oder religiösen Hintergrund hat. Eine Zwangsheirat mit einem «richtigen» Partner soll dann der Disziplinierung dienen. Siehe «Fragen und Antworten».

Weitere Gründe, die zu Zwangsheiraten führen können, ersehen Sie bei «Ursachen».

Heiratsmodi

Wo «Zwang» rund um die Heirat beginnt, und welche Formen er annimmt, ist in der Realität manchmal schwierig zu definieren. Grundsätzlich hängt es vom subjektiven Empfinden einer Person ab, ob sie Fremdbestimmung als Zwang wahrnimmt. Wehrt sich jemand gegen den Zwang oder fügt sich die Person, ist dies wiederum eine andere Frage. Bei Zwangsheiraten gibt es – auch wegen diesen schwierigen Abgrenzungen – eine hohe Dunkelziffer.

Wir unterscheiden im Folgenden neun unterschiedliche Heiratsmodi: Zwangsheirat, arrangierte Heirat, Minderjährigenheirat, Scheinheirat, Liebesheirat, selbstorganisierte Heirat, gleichgeschlechtliche Heirat, Mehrheirat und Zwangsehe. Diese Heiratsformen bewegen sich in unterschiedlicher Weise zwischen Fremd- und Selbstbestimmung.

Zwangsheirat: Menschenrechtsverletzende Fremdbestimmung.

Eine Zwangsheirat liegt dann vor, wenn mindestens eine der heiratenden Personen sich zur Vermählung gezwungen fühlt. Entweder findet die betroffene Person mit ihrem «Nein» und ihrer Weigerung kein Gehör oder sie wagt es gar nicht erst, sich zu widersetzen, weil sie negative Konsequenzen befürchtet. Der/die Verlobte, die Familie oder Verwandte üben mit unterschiedlichen Mitteln Druck aus.

Dieser kann psychischer Art oder emotionale Erpressung sein oder Einschränkungen in Bezug auf Lebensstil und Bewegungsspielräume oder andere erniedrigende, entwertende und kontrollierende Verhaltensweisen beinhalten. Auch Drohungen, Nötigungen, Entführungen oder Einsperren, physische oder sexuelle Gewalt kommen in Extremfällen vor. Sozialer und struktureller Druck spielen bei Zwangsheiraten ebenfalls eine wichtige Rolle. Siehe Druckmittel bei «Ursachen».

Zwangsheiraten sind in der Schweiz verboten. Auch auf internationaler Ebene sind Zwangsheiraten als menschenrechtsverletzende Praktik definiert. Siehe «Rechte und Gesetze». Auch erzwungene Eheversprechen, sogenannte Zwangsverlobungen, sind in der Schweiz untersagt.
In diesen traditionalistischen Gesellschaften muss die Ehe nicht zwingend im Standesamt geschlossen werden. Häufig ist eine sogenannt informelle Heirat gemäss einer bestimmten kulturellen oder religiösen Tradition, der sich die Familie zugehörig fühlt, sogar wichtiger als die formelle Eheschliessung. In der Schweiz gilt aber das Primat der Ziviltrauung (Art. 97 Abs. 3 ZGB). Eine informelle Heirat darf erst nach der zivilen Trauung stattfinden.

Arrangierte Heirat: Fremdbestimmung mit Zustimmung.

Bei einer arrangierten Heirat wählen die Eltern, Verwandten oder Heiratsvermittler*innen den Ehegatten oder die Ehegattin aus. Braut und Bräutigam können dabei zustimmen oder ablehnen.

Was aber, wenn die Verwandten einfach davon ausgehen, dass die Brautleute mit einer arrangierten Heirat einverstanden sind? Oder wenn nach der Ablehnung mehrerer vorgeschlagener Partner*innen die Erwartungen und der Druck langsam aber sicher steigen? Entscheidend ist dann, ob die Brautleute eine echte Chance haben, «Nein» zu sagen. Schliesslich sind sie mit der Tradition der arrangierten Heirat und im Wissen um ihre Bedeutung aufgewachsen. Und sie sind sich über mögliche soziale Folgen für sich und ihre Familie bei einer Weigerung im Klaren.

Die Familie und das soziale Umfeld üben teilweise grossen Druck auf die Entscheidung aus. Entsprechend ist es möglich, dass den Betroffenen der Zwang erst nach der Eheschliessung bewusst wird – auch dann kann von Zwangsheirat gesprochen werden.

In der Schweiz sind arrangierte Heiraten rechtlich nicht verboten.

Die Übergänge von einer arrangierten Heirat zu einer Zwangsheirat sind also fliessend. Deshalb ist die Unterscheidung dieser Heiratsformen eine Herausforderung. Wo beginnt der Zwang? Ist Druck im Spiel? Haben die Betroffenen wirklich eine reelle Chance, «Nein» zu sagen?

Vom Arrangement zum Zwang: Drei Perspektiven

  1. Zwangsheiratund arrangierte Ehen sind zu unterscheiden, es ergibt sich keine Schnittmenge. Kulturrelativistischer Blickwinkel: In einigen Gesellschaften sind arrangierte Heiraten gang und gäbe, diese Form der Verheiratung werde von den Betroffenen nicht als Zwang wahrgenommen. Im Sinne von «andere Länder, andere Sitten».
  2. Eine arrangierte Heirat kann eine Zwangsheirat sein, muss aber nicht. Zwangsheirat und arrangierte Heirat haben eine Schnittmenge. Standpunkt der Fachstelle Zwangsheirat: Rechtlich sind arrangierte Heiraten in der Schweiz erlaubt, Zwangsheiraten hingegen verboten. Dazwischen existiert allerdings ein Graubereich, es ergibt sich also eine Schnittmenge. Als Beratungsstelle nehmen wir die Betroffenen auch dann als handelnde Subjekte wahr, wenn sie der Partner*innenwahl durch Dritte zustimmen. Aber gleichzeitig sollte das Individuum nicht einfach seinem Schicksal überlassen werden.
  3. Heiratszwang, Endogamie, Alterszwänge und Gegengeschlechtlichkeit: Weil arrangierte Heiraten solche Heiratsbürden beinhalten, bedeuten sie Zwang. Feministische Betrachtungsweise: Jegliche Fremdbestimmung bei der Heirat bedeute Zwang. In dieser Sichtweise gibt es keine Graubereiche oder Abstufungen. Zwangsheirat und arrangierte Heirat sind deckungsgleich.

Minderjährigenheirat: Prekäre Selbst- oder Fremdbestimmung

In der Schweiz sind Minderjährige nicht ehefähig: Ohne Volljährigkeit – mit 18 Jahren – keine Heirat. Manchmal wird die Voraussetzung der Volljährigkeit allerdings umgangen, indem eine Zwangsverlobung durchgeführt wird.

Minderjährigenheiraten werden auch international bekämpft. Die Afrikanische Charta über die Rechte und das Wohlergehen des Kindes definiert Minderjährigenheiraten als schädliche soziale und kulturelle Praktiken. Sie hat unter den internationalen und regionalen Konventionen das Ehefähigkeitsalter 18 Jahre bereits 1990 als erste definiert:

Art. 21 Abs. 2: «Child marriage and the betrothal of girls and boys shall be prohibited and effective action, including legislation, shall be taken to specify the minimum age of marriage to be 18 years (…)»

Im Umgang mit Minderjährigenheiraten gibt es aber in der Schweiz noch Gesetzeslücken. Heiraten unter 18 Jahren ist in der Schweiz zwar in der Regel verboten (gemäss Art. 105 Ziff. 6 ZGB). Als Ehefähigkeitsalter gilt 18 Jahre. Bei im Ausland nach ausländischem Recht geschlossenen Ehen wird aber ab dem Schutzalter von 16 Jahren eine Interessensabwägung vorgenommen. Wenn also gerichtlich festgestellt wird, dass die Fortführung der Ehe den überwiegenden Interessen der Brautleute entspreche, wird sie in der Schweiz anerkannt. Die Interessen sind jedoch nicht immer einfach festzustellen.

Scheinheirat: Irregularisierte Selbstbestimmung.

Unter Scheinheirat wird eine Heirat verstanden, die nicht mit dem Ziel einer dauerhaften Lebensgemeinschaft geschlossen wird. Vielmehr geht es um das Erwirken gewisser Rechte (Einreisevisum, Aufenthaltsrecht, Bleiberecht).

Scheinheiraten stellen einen Verstoss gegen die schweizerische Rechtsordnung dar. Denn das Bundesgericht definiert die Ehe als ein: «auf Dauer angelegtes Zusammenleben von Mann und Frau in einer umfassenden Lebensgemeinschaft» (BGE 119 II 264 E. 4b S. 267).

Gleichzeitig sind Scheinheiraten als solche aber selbst gewählt.

Sogenannte Lavendelehe: Dies bezeichnet die strategische Entscheidung von homosexuellen Personen, eine heterosexuelle Ehe einzugehen. Sie hat zum Ziel, gesellschaftliche Sanktionen oder das Adoptionsverbot zu umgehen.

Liebesheirat: Romantisch motivierte Selbstbestimmung

Die Liebesheirat ist in individualistisch geprägten Gesellschaften – auch in der Schweiz – das gesellschaftliche Ideal. Es ist die (vermeintlich) gängigste Heiratsweise. Diese Form der selbstbestimmten Heirat beruht auf einer Heiratsentscheidung auf Basis gegenseitiger Zuneigung. Sie wird im freien Willen und auf Wunsch beider Partner*innen geschlossen. Obschon Liebe im Zentrum steht, können auch andere Faktoren wie Geld, Einkommen, Prestige und gesellschaftliche Erwartungen eine Rolle spielen.

Selbstorganisierte Heirat: Selbstbestimmung mit Hilfsmitteln

Eine selbstorganisierte Heirat erfolgt durch Hilfsmittel, die bei der Auswahl: Um den passenden Partner, die passende Partnerin zu finden, setzen Heiratswillige etwa auf die Unterstützung von Kontaktanzeigen oder Internetportalen (Dating-Seiten, Online-Partnervermittlungen usw.).

Für die selbstorganisierte Partner*innensuche steht eine grosse Bandbreite von Hilfsmitteln zur Verfügung. Bindungswillige suchen per Annoncen nach einem Wunschpartner oder nach der Gefährtin fürs Leben.

Die selbstgewählten Kriterien zu gewünschten Merkmalen oder Charaktereigenschaften verändern sich über die Zeit. Während Frauen früher Treue als wichtigstes Kriterium für einen künftigen Partner angaben, sind heute humorvolle Männer gefragt. Männer ihrerseits sehnen sich heute nach treuen und ehrlichen Frauen. Selbstgewählte Kriterien beeinflussen also die Vorauswahl. Die Wahl des Partners/der Partnerin erfolgt selbstbestimmt.

Bereits schätzungsweise jede dritte Ehe in der Schweiz wird mittlerweile mit Hilfsmitteln selbst organisiert – Tendenz steigend. Vorkriterien wie Augenfarbe und Musikgeschmack grenzen bei der Partner*innensuche die Vielfältigkeit der Paarkonstellationen ein. Die Versprechen der Dating-Agenturen, mittels Computeralgorithmen oder anderen «wissenschaftlich» fundierten Kombinations- und Eingrenzungsmöglichkeiten den «perfekten Match» zu finden, erhöhen die Ansprüche an eine*n Partner*in nochmals.

Die Möglichkeit, jemanden online kennenzulernen, empfinden gerade Jugendliche, die Zuhause stark kontrolliert werden, als Befreiung. Allerdings birgt der virtuelle Raum auch Schattenseiten wie etwa die Pädokriminalität. Und es kommt vor, dass mit Informationen aus dem Internet Druck ausgeübt wird. Zum Beispiel wird eine junge Frau von ihrem Bruder an die Eltern verraten, nachdem er das Kontaktprofil seiner Schwester in einem Chatraum gefunden hat.

Die Online-Möglichkeiten haben die Beziehungssuche sowohl für gegengeschlechtliche als auch für gleichgeschlechtliche Bindungswillige in kurzer Zeit einschneidend verändert. Die selbstorganisierte Partner*innensuche kann in einer Liebesheirat münden.

Gleichgeschlechtliche Heirat: Selbstbestimmung ohne Heteronormativität.

Die gleichgeschlechtliche Heirat ist in vielen Ländern mittlerweile erlaubt, zum Beispiel in Spanien, Portugal, Norwegen, Schweden, Niederlande, Belgien, Frankreich, Irland, Neuseeland, Argentinien, Uruguay, Brasilien, Kolumbien, Südafrika, Deutschland und weiteren Staaten. Die Liste wird ständig länger. Damit wird die Norm der Gegengeschlechtlichkeit bezüglich der Ehe gelockert.

In der Schweiz ist die gleichgeschlechtliche Partnerschaft seit 2007 in gesetzlich legitimierter Form als Eintragung einer eheähnlichen Gemeinschaft möglich, die sogenannte «Homo-Ehe» bisher aber noch nicht.

Mehrheirat: Strittige Selbstbestimmung

Eine Mehrheirat liegt vor, wenn jemand mit mehreren Personen verheiratet ist. Eine traditionalistische Form der Mehrheirat ist die gleichzeitige Mehrehe (Polygamie). Sie ist in der Schweiz verboten (Art. 215 StGB).

Die Polygynie – ein Mann heiratet mehrere Frauen – ist die am häufigsten vorkommende Form von Polygamie. Weitaus seltener ist der umgekehrte Fall der Polyandrie, wenn eine Frau mehrere Ehemänner hat.

Serielle Monogamie – das Wiederheiraten nach einer Scheidung –  ist in der Schweiz erlaubt. Manche Gesellschaften mit ausgeprägten katholischen Wertvorstellungen stehen der Scheidung kritisch bis ablehnend gegenüber: In Malta ist die Scheidung erst seit 2011 erlaubt und beispielsweise in den Philippinen noch heute verboten.

Im Gegensatz dazu ist die Polyamorie ein multi-erotisches Beziehungsmodell mit Wissen und Einverständnis aller Beteiligten. Eine formelle Heirat von mehr als einem Partner/einer Partnerin ist nicht möglich.

Zwangsehe: Bleibezwang in der Ehe

Bei einer Zwangsehe besteht ein Bleibezwang in einer bereits eingegangenen Ehe. Sie liegt dann vor, wenn sich mindestens eine der beiden Ehepartner*innen gezwungen fühlt, die Ehe fortführen zu müssen und sie nicht auflösen zu können, weil der/die Ehepartner*in, die Familie oder Verwandte mit unterschiedlichen Mitteln Druck auf den Verbleib in der Ehe ausüben. Ein solcher Bleibezwang kann nach allen Heiratsformen entstehen, beispielsweise auch nach einer selbstorganisierten Vermählung.

Die betroffenen Personen werden mit unterschiedlichen Mitteln durch ihr Umfeld, durch die eigene Familie bzw. die des Ehepartners/der Ehepartnerin oder durch den/die Ehepartner*in selbst unter Druck gesetzt. Sexualisierte und allgemein häusliche Gewalt spielen hier oft eine Rolle. Auch ökonomische Abhängigkeit oder der Aufenthaltsstatus zwingt Betroffene einer Zwangsehe oft dazu, in der Zwangssituation zu bleiben, anstatt ihr zu entfliehen. Allerdings gilt nach Art. 50 Abs. 2 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) ein zivilstandsunabhängiges Bleiberecht bei besonderen Umständen wie häuslicher Gewalt oder nach einer Zwangsheirat.

Bei einer Scheinheirat kann sich durch den Beweisdruck gegenüber den Behörden ein struktureller Bleibezwang in der Ehe ergeben.

Des Weiteren gibt es noch andere Formen von Zwang rund um Themen wie Heirat, Partner*innenwahl oder Sexualität.

Liebesverbot: Fremdbestimmung vor konkreten Heiratsplänen

Auch wenn Heiraten noch kein Thema ist, können bereits Zwänge und Kontrolle rund um Liebesbeziehungen bestehen. Bei einem Liebesverbot dürfen Betroffene keine Beziehung mit einer Person führen, die nicht den Vorstellungen ihrer Familie entspricht. Wie bei der Zwangsheirat dominieren starke Normen rund um Heteronormativität und Endogamie. Ein Liebesverbot kann auch bedeuten, dass Liebesbeziehungen jeglicher Art vor einer Vermählung nicht erlaubt sind. Dies steht in engem Zusammenhang mit Idealvorstellungen zu Sexualität, Jungfräulichkeit und Sittlichkeit.

Betroffene Personen, deren Familie die unerwünschte bzw. unerlaubte Liebesbeziehung entdeckt, werden oft stärkeren Kontrollen, Zwängen und Disziplinierungsmassnahmen unterworfen. Ihre von der Familie nicht akzeptierten Liebespartner*innen können damit zu Mitbetroffenen werden.

Informelle Heirat: Kulturelle, traditionelle oder religiöse Verheiratung, die selbst- oder fremdbestimmt sein kann

Nicht nur im Ausland sondern auch in der Schweiz werden immer wieder Minderjährige verheiratet – in informellen, traditionell-religiösen Ritualen. Viele Berichte beziehen sich auf Fälle im Zusammenhang mit dem Islam oder auf sogenannte «Imamehen». Doch auch z.B. in Roma-Familien mit katholischem Hintergrund, bei Jesiden oder Drusen kommen Heiraten mit minderjährigen Personen vor, auch hierzulande (siehe z.B. NZZaS 29.01.2017).
Der kulturellen oder religiösen Verheiratung wird vom Umfeld oft mehr Bedeutung zugeschrieben als einer formellen Vermählung durch die Zivilstandsbehörden.
Ein wirksamer Mechanismus im Schweizer Recht, um Minderjährige vor Zwangsverheiratungen zu schützen, ist das Primat der Ziviltrauung gemäss Art. 97 Abs. 3 ZGB: «Eine religiöse Eheschliessung darf vor der Ziviltrauung nicht durchgeführt werden». Doch genau dies wird in der Praxis trotzdem getan – zum Leidtragen der oft minderjährigen Betroffenen. Die Thematik der religiösen Heiraten war unlängst auch ein politisches Thema. Das Parlament gelangte jedoch zum Schluss, dass eine Abschaffung oder Schwächung des Primats der Ziviltrauung zu einem weiteren Anstieg von Minderjährigenheiraten führen könnte.
In Deutschland wurde das religiöse Voraustrauungsverbot 2009 abgeschafft, 2017 unter anderem aufgrund zunehmender Minderjährigenheiraten wieder eingeführt.

Das Primat der Ziviltrauung schützt nicht nur bei der Trauung selbst, sondern auch in der Ehe vor Willkür und Rechtlosigkeit. Die zivile Ehe regelt die Hochzeit und vereinheitlicht die Rechte rund um Scheidung und Trennung. Dies ist bei religiösen Heiraten nicht immer gegeben. Ohne die Möglichkeit einer zivilen Scheidung ist Personen, die nur religiös getraut wurden, unter Umständen jeder Weg zu einer Auflösung der Ehe verwehrt.

Zwangsverlobung und Verlobung von Minderjährigen: Fremdbestimmtes Versprechen zur zukünftigen Eheschliessung

Paare werden sich zur Ehe versprochen, wobei mindestens ein Teil des zukünftigen Brautpaares nicht damit einverstanden ist. Häufig sind die Betroffenen minderjährig.
Aus einer Verlobung resultiert in der Schweiz kein rechtlich bindender Anspruch auf eine Eheschliessung (Art. 90 Abs. 3 ZGB).
Anders als etwa Art. 21 Abs. 2 der Afrikanischen Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes von 1990 verbietet die Schweizer Gesetzgebung die Verlobung Minderjähriger nicht. Art. 94 Abs. 3 ZGB hält zwar fest: «Aus dem Verlöbnis entsteht kein klagbarer Anspruch auf Eingehung der Ehe.» In Familien, in denen Minderjährigenheiraten aufgrund starker adultistischer Strukturen sowie rigider Normen rund ums Heiraten und Sexualität entstehen, kann eine Verlobung jedoch ein verbindlicher, öffentlicher Schritt sein, der nur schwer auflösbar ist. Damit wird die Verlobung von Minderjährigen unter Umständen auch zur faktischen Umgehungsmöglichkeit der Ehefähigkeitsbegrenzung von 18 Jahren. So kann es auch zu Zwangsverlobungen kommen.

Die Begrifflichkeiten rund um die Formen von Zwangsheirat und -ehe und auch die Nuancen von Fremd- und Selbstbestimmung, die hier eine Rolle spielen, sind eine gute Grundlage, um zu erfassen, mit welchem Phänomen wir es zu tun haben. Das reicht aber noch nicht aus, um zu verstehen, wie es zu einer Zwangsheirat kommt. Mehr Informationen dazu finden Sie bei «Ursachen».

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