Traditionalismus, Religion, das Patriarchat, Sexualität und Jungfräulichkeit und internationale Verflechtungen: Die Ursachen von Zwangsheiraten sind vielfältig und vielschichtig.

Ursachen und Zusammenhänge von Zwangsheirat in der Schweiz

Die freie Wahl des Ehepartners oder der Ehepartnerin ist ein Menschenrecht. Dennoch werden auch in der Schweiz Menschen gegen ihren Willen zu Heirat und Ehe gezwungen.

Es ist eine Verengung der Sicht, Zwangsheirat nur als Resultat etwa von Religion oder Herkunft zu sehen. Eine solche Perspektive wäre verunglimpfend und würde Stereotypen Vorschub leisten. Aber umgekehrt soll die Zwangsheirat auch nicht verharmlost werden, denn die Betroffenen leiden unter dieser Menschenrechtsverletzung.

«Eine Ehe darf nur bei freier und uneingeschränkter Willenseinigung der künftigen Ehegatten geschlossen werden.»
Artikel 16 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948

Das Vorkommen von Zwangsheiraten steht in einer komplexen Wechselwirkung von starker Orientierung an der Familie (Familialismus), an den herkunftsbezogenen Traditionen (Traditionalismus) und der Männerherrschaft (Patriarchat).

Vorauszuschicken ist hier, dass alle Gesellschaften überkommene Traditionen kennen. Die Afrikanische Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes spricht von «Protection against harmful social and cultural practices» (Schutz gegen schädliche soziale und kulturelle Praktiken) (Art. 21). Im Gegensatz zum Englischen Sprachgebrauch kann der Ausdruck «kulturelle Praktiken» im Deutschen auch pejorativ verwendet werden, weshalb wir es vorziehen, von «Tradition(-en)» zu sprechen. Beispielsweise wurde den Frauen in der Schweiz im Kanton Appenzell Innerrhoden bis ins Jahr 1990 das allgemeine Stimm- und Wahlrecht vorenthalten. Dies ist ebenfalls eine Menschenrechtsverletzung.

Im Folgenden sollen die wichtigsten Ursachen, ihre Wirkungsweisen und Zusammenhänge erklärt werden, aufgrund derer es zu Zwangssituationen oder Zwangsheiraten kommen kann.

Patriatchat

Im Folgenden sollen die wichtigsten Ursachen, ihre Wirkungsweisen und Zusammenhänge erklärt werden, aufgrund derer es zu Zwangssituationen oder Zwangsheiraten kommen kann.

Hauptursachen

Zwänge rund um Beziehung, Liebe, Sexualität, Partnerschaft und Heirat haben viele Gründe. Aber die Hauptursachen liegen in einer Überbewertung der Familie (Familialismus), einer Orientierung an erstarrten Traditionen (Traditionalismus) sowie der Männervorherrschaft (Patriarchat). Darum herum gruppieren sich eine Reihe von weiteren Ursachen.
Wenn die Entfaltung der einzelnen Familienmitglieder dem Willen des Familienverbunds klar untergeordnet wird, dann schränkt dies die persönliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ein. Damit verletzt die Überbewertung der Familie die Menschenwürde und das individuelle Recht der Betroffenen auf die freie Wahl des Ehepartners oder der Ehepartnerin. Schädliche Traditionen wie die Auferlegung von bestimmten Kriterien, welche der oder die Zukünftige erfüllen muss, schränken die freie Wahl ein und können Zwangsheiraten entstehen lassen, wie beispielsweise Vorschriften rund um Endogamie (siehe auch unter Begriffe und Definitionen). Die Männervorherrschaft (Patriarchat) schliesslich hat viele Formen. In seiner gesellschaftlichen Form zeigt sich dies zum Beispiel darin, dass Frauen nicht selber entscheiden können, ob sie bis zu ihrer Heirat Jungfrau bleiben wollen. Auch in der Schweiz gibt es strukturelle patriarchalische Tendenzen. Beispielsweise sind Frauen in der Politik und auch in Führungspositionen in Firmen immer noch massiv untervertreten.

Transnationalität als eine der Ursachen – eine Auswahl

Die Ursachen und zugleich auch die Umstände von Verwandtschaftsgewalt sind im länderübergreifenden Kontext zu suchen (vgl. auch Bundesstudie 2012: 62ff.).

  • Zwang zur Endogamie («Du heiratest einen von uns!»)
  • Heirat als Disziplinierungsmassnahme, auch zur (Wieder-)Herstellung gewisser Normen im Kontrast zu denjenigen im Diasporaland. Zum Beispiel ein Outplacement (Verschleppung ins Ausland) oder Zwangsheirat als «Strafe» für unerlaubte Beziehungen vor der Heirat, einen «freizügigen» Kleidungsstil, usw.
  • Zwecks Disziplinierung und Servilität werden mitunter verwandtschaftliche Netzwerke im Herkunftsland und in anderen Diasporaländern mobilisiert; demgegenüber besitzt die Generation der Kinder im Einwanderungsland oft mehr Ressourcenmacht als die Eltern (etwa durch bessere Sprach- und Landeskenntnisse, bessere Bildung, usw.).
  • Rolle der Erziehungsreputation der Eltern gegenüber der Verwandtschaft im Ausland und Herkunftsland: Die Familie als Schaubühne gegenüber den Verwandten («Wir erziehen unsere Kinder auch in der Schweiz gut!», «Wir kommen unseren Pflichten nach!»).
  • Solidarisches community bonding, starke Identifizierung mit einer Herkunftsgemeinschaft, auf die betreffend Normsetzungen referiert wird, die im Diasporakontext aber ein Konstrukt ist («imagined community»).
  • Restriktive Migrationsregime in der Schweiz können transnationale Heiraten als Migrationsstrategie begünstigen.
  • Outplacement/Heiratsverschleppung: Weil das Schweizer Recht eine Heirat erst ab 18 Jahren erlaubt, werden Minderjährigenehen häufig im Ausland geschlossen, zu einem späteren Zeitpunkt aber in die Schweiz importiert.

Multilokale Einflusseffekte

Unterschiedliche Werte, Normen und Lebensentwürfe sollten nicht bloss als «Import» aus dem Ausland betrachtet werden. Auch in Familien, die seit mehreren Generationen in der Schweiz leben, kommt es zu verwandtschaftsbasierter Geschlechtergewalt. Diese findet im Kontext einer spezifischen Migrationssituation und Einbettung in der Gesellschaft des Einwanderungslandes statt. Daher wird unterschieden zwischen:

Herkunftseffekt

Einstellungen, Haltungen, Verhaltensweisen, «Traditionen», Sitten und Bräuche einer Person sind vom Herkunftsland geprägt. Beispielsweise prägen Normen der Jungfräulichkeit bis zur Ehe oder der lebenslängliche Monogamiezwang für Frauen – nur ein Mann im Leben einer Frau, nämlich ihr Ehemann – aus dem Herkunftskontext auch nachfolgende Generationen im Diasporaland.

Migrationseffekt

Neue Normen, Werte und Lebensstile entstehen in der Transitionsphase zwischen Herkunfts- und Diasporaland, z.B. auf der Flucht.
Ein Beispiel: Der Anteil von minderjährig verheirateten syrischen Personen betrug gemäss einer UNICEF Studie von 2014 in Syrien: 13 %, in den syrischen Flüchtlingslagern in Jordanien aber 32.
Quelle: UNICEF (2014). A study on Early Marriage in Jordan, Juli 2014

Diasporaeffekt

Im Diasporaland gewinnt die Herkunft eine neue, identitätsstiftende Bedeutung. Dabei werden der eigenen Herkunftsgruppe gewisse Merkmale zugeschrieben, selbst wenn eine solche homogene «Gemeinschaft» eigentlich nicht existiert (imagined community). Aus den hier konstruierten «gemeinschaftlichen» Ansprüchen können Kontroll- und Zwangssituationen entstehen, beispielsweise kann das Heiratsalter in Diasporagemeinschaften im Vergleich zum Herkunftsland sinken, da es in einem paläokonservativen migrantischen Umfeld im Diasporakontext schwierig und unsicher scheint, etwa die sexuelle Enthaltsamkeit von jungen Frauen bis zur Ehe und damit ihre «Verheiratbarkeit» zu sichern. Oder in den Augen der Gemeinschaft machtferne Personen, z.B. jüngere Familienmitglieder oder Frauen, verfügen im Diasporaland über mehr Ressourcen, eine bessere Ausbildung und Sprachkenntnisse. Machtnahe Personen, z.B. Eltern oder Männer, wollen ihren Einfluss jedoch weiterhin behaupten.

«More importantly, men perceive that they are losing power just as women are gaining power both within and outside the home in the new host community. In dealing with the destabilization of masculinity that results from broader social, political, and economic sources outside the home, men may use violence against their intimate partner because their partners are easier targets than these more abstract sources, as a way to attempt to regain a sense of control over their lives.»

(Hervorhebung durch die Fachstelle Zwangsheirat)

Quelle : Alcalde Cristina M. (2011). Masculinities in Motion. Latino Men and Violence in Kentucky, in: Men and Masculinities, 14(4), 2011. S. 450-469.

Weitere Ursachen

Die Religionen erlassen Vorschriften rund um Heirat und damit verknüpft zur Sexualität. In vielen Religionen ist vor- und aussereheliche Sexualität verpönt. Das Tabu vorehelicher Liebesbeziehungen erhöht den Druck zur Heirat an sich und kann in diesem Sinne auch Zwangsverheiratungen begünstigen. Homosexualität gilt automatisch als Tabu, weil die Ehe auch in religiöser Hinsicht als Verbindung von Frau und Mann definiert wird. Anderssexuelle Menschen werden manchmal im Sinne einer Disziplinierung gegengeschlechtlich zwangsverheiratet. Siehe auch bei «Fragen und Antworten» zur Rolle der Religion bei Zwangsheiraten.
Die klare Definition der Geschlechterrollen für Frauen und Männer (Vergeschlechtlichung) tragen ebenfalls zu Heiratszwängen und gegebenenfalls Zwangsheiraten bei. Eine Frau, die nicht verheiratet ist, wird in der tamilischen Gesellschaft nicht als Erwachsene gesehen, sondern als «Tochter» angesprochen. Wir kennen das aus dem schweizerischen Kontext vom «Fräulein». Bei einer Nichtbeachtung der Geschlechterrollen – beispielsweise die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe bei Frauen oder die Heirat und Familiengründung an sich, können zwangsweise Verheiratungen drohen. Bezüglich von Zwangsheirat betroffenen Männern ist auch häufig nicht tolerierte Homosexualität im Spiel, was Eltern und Familienumfeld dazu veranlassen kann, eine Heirat zu erzwingen.

Zwangsheirat ist in diesem Sinne eine mögliche Strategie, um die Sexualität zu kontrollieren. Das betrifft vor allem die Frauen. Denn an ihrer «Anständigkeit» – die Keuschheit vor und die Treue in der Ehe – macht sich die Familienehre fest. Frauen werden also kontrolliert und es wird ihnen kein Spielraum zur Gestaltung der eigenen Sexualität und Partnerwahl zugestanden. Im Extremfall kann dies sogenannte Ehrenmorde zur Folge haben. Solche Ehrvorstellungen haben wenig Platz für Selbstbestimmung, sondern die Ehre bzw. die Kontrolle der weiblichen Sexualität ist eine Familienangelegenheit. Siehe «Fragen und Antworten» und bei «Ehrverbrechen».

Dies ist ein Beispiel, wie die Gruppenzugehörigkeit und die kollektiven Normen das Individuum einschränken können. Ein Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Herkunftsgruppe oder -familie ist auch etwas Positives. Aber wenn es zu stark wird, so dass es zu Lasten der Menschenwürde ihrer einzelnen Mitglieder geht, wie dies bei einer Zwangsheirat der Fall ist, kann sie zu einer Gemeinschaftsfessel werden (Community Bonding).

Im Migrationskontext kann eine überstarke Orientierung an der eigenen Gemeinschaft auch mit einem Rückzug in die Herkunftsgruppe (Neo-Ethnisierung), in eine Rückbesinnung auf Religion (Neo-Religionisierung) und in den Rückgriff auf starre Traditionen (Neo-Traditionalisierung) münden. Dies schafft ein Umfeld für menschenrechtsverletzende Praktiken wie Zwangsheirat. Siehe Herkunftseffekt, Migrationseffekt und Diasporaeffekt in Fragen und Antworten. Beispielsweise kann die Norm der Jungfräulichkeit im Kontext des Lebens im Wohnland Schweiz gegenüber der vielleicht als dekadent und sexuell zu freizügigen Schweizer Mehrheitsgesellschaft noch stärker betont werden. Siehe «Fragen und Antworten».

Dies hat in diesem Sinne mit Abgrenzung und Identität zu tun, die einem Migrationseffekt geschuldet sind. Durch die eigenen Heiratspraktiken wird gegenüber der Mehrheitsgesellschaft oder im Unterschied zu anderen Minderheiten die eigene Gruppenidentität betont.

Die Hinwendung zur eigenen Gruppe und zu deren Traditionen kann im Migrationskontext auch dadurch motiviert sein, dass Migrant*innen in der schweizerischen Gesellschaft Diskriminierung erfahren. Sei es alltäglich gespürter Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierung auf dem Arbeits- und Immobilienmarkt usw. Dies kann zu Frustration und Ablehnung gegenüber der Schweizer Mehrheitsgesellschaft führen. Das entschuldigt keine Menschenrechtsverletzungen, aber es zeigt auf, dass Integration immer ein zweigleisiger Prozess ist.

Zwangsheiraten können also Abgrenzungen bedeuten, und ein Hinweis auf fehlende, mangelhafte oder gescheiterte Integration sein. Allerdings nicht immer. Denn höhere Bildung und ein besseres Einkommen sind umgekehrt keine Garantie: Auch in sozioökonomisch gut integrierten Familien kommen Zwangsheiraten vor.

Eine schlechte Wirtschaftslage im Herkunftsland erhöht für manche Migrant*innengruppen in Einwanderungsgesellschaften den Druck, beispielsweise zu finanzieller Unterstützung im Herkunftsland aber auch zur Unterstützung von Migrationsabsichten und sozioökonomischem Aufstieg. Eine Zwangsverheiratung wird dann zur Zuwanderungsstrategie, um einer ökonomischen Notlage zu entkommen. Aber auch, um die Einwanderungsabwehr infolge einer strikten Zuwanderungspolitik zu überwinden. Es ist eine der ganz wenigen Möglichkeiten, aus einem Drittstaat in die Schweiz einzureisen – wenn keine Aussicht auf Asyl besteht.
Hier zeigt sich die globale Verflechtung (Transnationalismus), welche Familien im Herkunftsland und Wohnland verbindet und auch die transnationalen Heiratsverflechtungen, die – auch aufgrund von ökonomischen Ungleichheiten – daraus entstehen. Aber natürlich kann auch einfach Liebe im Spiel sein, die Grenzen überwindet. Schliesslich ist in der Schweiz mittlerweile jede dritte Ehe binational. Manchmal führt der Druck zur Familiensolidarität und Unterstützung von Migrationsunterfangen jedoch auch zu erzwungenen Heiraten.
Es ist oft die Generation der Eltern und Grosseltern, die mit ihrer Macht der Älteren (Adultismus) solche Strategien in die Wege leitet. Sie gehen damit eben auch das Risiko von Zwangsverheiratungen ein. Der jüngeren Generation wird oft kein Mitspracherecht eingeräumt, oder sie wagen es nicht, sich zu wiedersetzen. Viele Eltern (bzw. Verwandte) glauben, dass sie über mehr Erfahrung verfügen und denken zu wissen, was jeweils für ihre Tochter oder ihren Sohn die beste Lösung darstellt, was die Wahl eines Partners/einer Partnerin angeht. Siehe auch «Fehlannahmen».

Doch die junge Generation verfügt auch über Ressourcen im Sinne von Umkehrabhängigkeiten: Im Migrationskontext ist die erste Generation in vielen Alltagssituationen von ihren Kindern abhängig. Denn die Jungen sprechen die Landessprache, haben oft bessere berufliche Perspektiven und sind beispielsweise mit behördlichen und administrativen Prozessen vertrauter. Dadurch werden Machtungleichheiten und Abhängigkeiten überwindbar.

Identität zwischen Fremdeinfluss und Selbstbestimmung

In der Mehrheitsgesellschaft und den Herkunftsgemeinschaften von Migrant*innen gelten manchmal entgegengesetzte Moralvorstellungen und Sitten bezüglich Heirat und Ehe, Sexualität und Lebensgestaltung.

Dieses Dazwischen-Stehen ist gerade auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht einfach und kann zu einer regelrechten Zerreisprobe führen. Gemäss der Bundesstudie zu Zwangsheiraten in der Schweiz von 2012 wurden 38% der Betroffenen in der Schweiz geboren, 76% verfügen über die Niederlassungsbewilligung C. Bei der Fachstelle Zwangsheirat sind mehr als 80% der Betroffenen in der Schweiz geboren und/oder aufgewachsen. Siehe auch «Fragen und Antworten». Meist spielen beide Ausrichtungen eine Rolle im Leben von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Einerseits beziehen sie sich auf die Normen und Werte des Elternhauses, andererseits orientieren sie sich an der Schweizer Mehrheitsgesellschaft, an Gleichaltrigen, an Freund*innen und Kolleg*innen, wie alle Jugendliche es tun.
In manchen Fällen wenden sich Personen mit Migrationshintergrund auch von ihrer Herkunftsgemeinschaft ab, wie die Fachstelle das manchmal bei Betroffenen von Zwangsheirat erlebt, weil sie unter Traditionen und Familie leiden. Andere wiederum distanzieren und grenzen sich von der Schweizer Mehrheitsgesellschaft ab: Vielleicht erfahren sie, obwohl sie in der Schweiz aufgewachsen sind, im Alltag Diskriminierung. Siehe auch «Neo-Traditionalisierung», «Neo-Ethnisierung», «Neo-Religionisierung».

Multimoral-Modell im Migrationskontext

Wir haben hier das sogenannte Modell des Bipolaren Über-Ichs oder auch «Multimoral-Modell» entwickelt.

Dass zwischen den Ansprüchen, Forderungen und Erwartungen der Mehrheit (gesellschaftliches «Über-Ich» im Modell) und den eigenen Wünschen und Bedürfnissen («Es» im Modell) eine Spannung besteht, gilt als normal. Schon diese Herausforderung ans Individuum («Ich») ist anspruchsvoll und erfordert eine Realitätskontrolle zwischen dem «Über-Ich» und dem «Es».

Bei Migrant*innen kommen jedoch noch die Gebote und Verbote der eigenen Familie (gemeinschaftliches «Über-Ich» im Modell) hinzu.

Widersprüchliche Anforderungen setzen junge Menschen mit Migrationshintergrund dem Zwang aus, in unterschiedlichen Welten verschiedene Leben zu führen. Diese Multimoral ist belastend und führt oft zu seelischer Zerrissenheit.

Dies zeigt sich auch an der Erwartungsantwort, die einmal ein Ja und einmal ein Nein erfordert, gestellt an eine junge Frau mit Migrationshintergrund: «Hast du einen Freund?»

Wenn die Frage von Kolleg*innen, Gleichaltrigen oder Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft gestellt wird, dann lautet die Erwartungsantwort entweder «ja» oder «aktuell nicht» oder «nicht mehr». Es besteht insbesondere unter Jugendlichen ein «Zweisamkeitsdruck». Wenn man keinen Freund hat, wird man vielleicht nicht als «normal» angesehen oder als nicht «begehrt» beim anderen Geschlecht, was stark mit dem eigenen Prestige und Ansehen unter Gleichaltrigen verknüpft ist.

Hat die junge Frau keinen Freund, wird sie dafür also eine gute Erklärung parat haben. «Ich bin momentan mit meiner Ausbildung beschäftigt» oder: «Ich habe zurzeit kein Bedürfnis danach».

«Hast du einen Freund?»: In einem Familienumfeld oder der Herkunftsgruppe, wo Zwang aufs Heiraten und klare Erwartungen betreffend der Jungfräulichkeit und sexuellen Enthaltsamkeit vor der Ehe ausgeübt wird, führt die gleiche Frage zu einem klaren Nein. Denn die junge Frau weiss genau, dass eine voreheliche Liebesbeziehung tabu ist.

Je traditionalistischer und strenger das Elternhaus, desto mehr werden junge Menschen gezwungen, ein eigentliches «Doppelleben» zu führen.

Dies erfordert auch einiges an Kreativität: Beispielsweise wollen auf Freund*innen und Liebesbeziehungen die meisten jungen Menschen nicht verzichten. Aber wenn die Eltern davon nichts erfahren dürfen, helfen zum Beispiel verschiedene SIM-Karten dabei, Geheimnisse zu hüten. Hierzu zitiert der Bund (vom 08.08.2011) eine junge Frau: «Bei den Frauen bestimmen die Eltern, wer ihr Mann des Lebens sein soll», sagt Jasmin. Sie aber wollte selber bestimmen und liess sich nicht einschüchtern. Immer wieder hat sie einen Weg gefunden, ihren Freund zu hören oder zu sehen. Der Vater zerschmetterte ihr Handy auf dem Boden. Jasmin hatte aber noch ‚tausend andere SIM-Karten’.» [Der Bund vom 08.08.2011]

Das Mobiltelefon kann die Geheimnisse auch preisgeben, wenn es zuhause kontrolliert wird. Zudem darf der Druck und die innere Zerrissenheit und Angst vor dem Entdecktwerden nicht unterschätzt werden. Viele Betroffene leiden unter psychologischen Problemen, Angstzuständen, Depressionen, Suizidgedanken.

Bei der Fachstelle Zwangsheirat äusserte in der Beratung jede dritte weibliche Betroffene zwischen 15 und 25 Jahren, sie habe sich mit dem Gedanken befasst oder einen Versuch unternommen, sich das Leben zu nehmen. Somit ist mindestens die Verleitung zu einer Selbsttötung nicht zu unterschätzen.

Sexuelle Multi-Moral

Das Dazwischen-Sein von Personen mit Migrationshintergrund lässt sich in Bezug auf Zwangsheirat besonders gut betreffend sexueller Moral aufzeigen. Sexualität ist ein zentraler Faktor für das Auftreten von Zwangsheiraten, da eine rigide sexuelle Moral Sexualität an Heirat und Ehe festmacht.

Von einer «sexuellen Doppelmoral» wird dann gesprochen, wenn die in der Herkunftsgemeinschaft praktizierte Moral sich nicht mit den moralischen Werten der Mehrheitsgesellschaft deckt, aber Personen hierzu eine Haltung entwickeln, mit der sie in zweierlei Mass messen. Zum Beispiel mögen einige junge Männer kein Problem mit der Freizügigkeit mancher Frauen haben, die nicht aus der eigenen Bezugsgruppe stammen, sie haben jedoch andere Moralvorstellungen bezüglich Frauen ihrer eigenen Gemeinschaft. Oder in einer Reihe von Fällen in der Beratungspraxis unserer Fachstelle hat ein junger Mann mit Migrationshintergrund eine Schweizer Freundin, wird dann aber bezüglich einer Heirat mit einer Frau aus seiner Herkunftsgemeinschaft unter Druck gesetzt. Und willigt manchmal auch ein. Es ist dann auch seine bisherige Partnerin, die mitleidet. Hier kommt es dann oft zum «Trilemma»: Ein Zwang, zwei Beziehungen, drei beteiligte Personen.

Sexuelle Multimoral bezieht die individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Abhängigkeiten mit ein: Wie andere auch, orientieren sich diese jungen Menschen sowohl an Gleichaltrigen (Peers) und der Mehrheitsgesellschaft, in der sie leben, jedoch auch an ihrem Elternhaus und der moralischen Sozialisation, welche sie hier durchlaufen (haben). Es ist möglich, dass solche jungen Menschen bezüglich ihrer Moralvorstellungen grossen Zerreissproben ausgesetzt sind, welche schliesslich auch ihren eigenen Umgang mit Beziehungen und ihre Haltung zu Liebe, Sexualität, Heirat und Ehe bestimmen. Beispielsweise ist das wichtigste Symbol einer rigiden sexuellen Moral die Jungfräulichkeit. Dies resultiert aus der Vorstellung der lebenslangen Monogamie für Frauen: Eine Frau soll in ihrem Leben nur mit ihrem Ehemann Geschlechtsverkehr haben. Der Kult um die Jungfräulichkeit verlangt von jungen Frauen, bis zu ihrer Hochzeit enthaltsam zu leben, ansonsten müssen sie mit Sanktionen rechnen. Obschon es wissenschaftlich belegt ist, dass nur gerade die Hälfte aller Frauen bei ihrem «ersten Mal» blutet, gilt das Reissen des Jungfernhäutchens (Hymen) und das entsprechende Blut auf dem Laken als «Beweis» der Jungfräulichkeit.

Junge Frauen werden so unter grossen Druck gesetzt. Besonders wenn sie bereits Geschlechtsverkehr hatten. Aber es kann auch einfach die Angst sein, dass sie nicht bluten und ihnen kein Glaube geschenkt würde, dass sie noch Jungfrau sind. Auf dem Markt sind hier Täuschungsmöglichkeiten wie Blutkapseln oder künstliche Jungfernhäutchen erhältlich. «Fünf bis zehn Bestellungen im Monat kommen aus der Schweiz, Tendenz steigend», sagt die Geschäftsführerin eines Vertriebs für künstliche Jungfernhäutchen. Im Angebot der Blutkapseln stehen zwei Farbtöne; kirschrot für frisches und rotbraun für eingetrocknetes Blut.

Auch der medizinischen Wiederherstellung des Jungfernhäutchens unterziehen sich manche Frauen. Das Universitätsspital Basel hat die Zahl von 60 Eingriffen pro Jahr für die Schweiz ermittelt – die Dunkelziffer liegt wohl höher. Viele Betroffene kommen durch den Jungfräulichkeitszwang in den Clinch – sie wollen einerseits ihre Jungfräulichkeit bewahren, aber auch nicht ganz auf Sexualität vor der Ehe verzichten, weshalb sie auch auf andere sexuelle Praktiken als die der Penetration ausweichen. Aus vorehelichem Geschlechtsverkehr kann umgekehrt auch ein Heiratszwang erwachsen. Diese Spannungsfelder und Doppel- oder Multimoral rund um Jungfräulichkeit bringt auch der Film «Der Jungfrauenwahn» von Regisseurin Güner Yasemin Balci zur Sprache. Siehe «Begriffe und Definitionen».

Druckmittel rund um Zwangsheirat

Der Druck, eine Zwangsheirat einzugehen, kann so gross werden, dass manche Betroffene sich ihrem Schicksal fügen. Diese Fälle führen zur hohen Dunkelziffer von Zwangsheirat – wir sehen in den Beratungsstellen nur die «Spitze des Eisbergs». Diejenigen, die nach Auswegen und Unterstützung suchen. Siehe auch «was wir tun».

Die Betroffenen leiden vor allem unter der Zerrissenheit zwischen Freiheitsbedürfnis und Loyalität zur Familie. Wenn Letztere stärker ist, führt dies dazu, dass sie sich ihrem Schicksal fügen.

Bei Zwangsheirat sind oft subtilere Druckmittel im Spiel. Deshalb ist sie auch schwierig über die Faktoren bei häuslicher Gewalt zu erfassen. Vor der Einführung des Straftatbestands Zwangsheirat bestand hier das grosse Problem, «Nötigung» nachzuweisen, die auch physische und sexuelle Gewalt und grobe psychische Zwangsausübung umfasst. Siehe auch «Rechte und Gesetze».

Es gibt durchaus Fälle, wo häusliche Gewalt im Spiel ist, aber am häufigsten bei Zwangsheirat ist die emotionale Erpressung. Dies geschieht oft durch Mütter, die ihr «rebellisches» Kind für ihre Krankheit verantwortlich machen oder damit drohen, sich umzubringen. Starke psychische Belastung und Angstzustände der Kinder sind die Folge.

Oft werden Betroffene übermässig kontrolliert. Die Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt, der Besuch der Schule oder der Gang an die Arbeitsstelle erfolgt nur in Begleitung des älteren Bruders und viele Kontakte – speziell zu männlichen Gleichaltrigen – sind verboten. Diese Kontrollmacht kann bis hin zu Isolierung und Einsperren reichen. Hiervon sind insbesondere Frauen betroffen – aber nicht nur. Verfolgung und Kontrolle durch Familienmitglieder können auch Männer treffen.

Die übermässige Überwachung durch Familienmitglieder nimmt die Form von «Stalking» an, wenn Betroffene ständig beobachtet, belästigt und verfolgt werden.

Familien können Betroffene auch wirtschaftlich unter Druck setzen, indem sie ihnen beispielsweise das Bankkonto sperren. Sind junge Menschen finanziell noch von der Familie abhängig, wirkt diese wirtschaftliche Bedrohung beträchtlich und limitiert ihren Handlungsspielraum. Betroffene, die ihr eigenes Einkommen haben, haben hier mehr Möglichkeiten, um sich zum Beispiel eine eigene Wohnung zu mieten.

Die Betroffenen befürchten den Verlust des Anwesenheitsstatus wie die Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung in der Schweiz, im Falle, dass sie von der Familie gezwungen werden, ins Herkunftsland zu reisen und dort zu bleiben. Dies wäre dann eine Verbringung ins Herkunftsland oder Ausland und ein dortiger Zwangsverbleib («Outplacement»). Nicht selten droht den Betroffenen dann auch eine Zwangsverheiratung. In diesen Fällen wirkt sich auch die Schweizer Gesetzgebung für sie nachteilig aus, denn bisher verlieren Betroffene bei einem mehr als 6-monatigen Aufenthalt im Ausland ihre Aufenthalts- und damit Rückkehrbewilligung. Siehe «Rechte und Gesetze». Genau dies kann ihnen aber zustossen, wenn ihnen im Herkunftsland etwa der Pass, Bargeld und Kommunikationsmöglichkeiten weggenommen werden, um sie an der Rückkehr zu hindern. Bei Minderjährigen sind die Eltern «am längeren Hebel», sie können ihre Kinder etwa einfach beim Einwohneramt abmelden. Siehe mehr zu «Outplacement».

Zudem kommen Gewaltandrohungen oder Todesdrohungen rund um Zwangsheirat vor und können Personen, die von Zwangsheirat betroffen sind, massiv einschüchtern. Sie müssen körperliche Gewalt befürchten. In gewissen Fällen kommt es auch zu dieser physischen Gewalt. Dann ist Gefahr in Verzug und die Betroffenen müssen ihre Familien – zumindest vorübergehend – verlassen, um sich nicht weiter zu gefährden. Siehe mehr hierzu bei «was wir tun».

Nicht nur die Familie, auch die Gemeinschaft setzt Betroffene psychisch unter Druck. Wer gegen die Regeln verstösst, bekommt die gemeinschaftliche Ächtung zu spüren. Etwa wenn ein unverheiratetes Paar Hand in Hand gesehen wird. Darauf reagieren traditionalistische Gemeinschaften oft mit Gerüchten bis hin zu Rufmord. Damit wird das Ansehen der Betroffenen systematisch geschädigt. Das kann auch ihre gesamte Familie treffen und sehr lange nachwirken. Deshalb verstärkt eine Familie oft gerade dann, wenn ihr Ruf gefährdet ist, ihre Kontrollmassnahmen, oder eine Zwangsheirat wird eingeleitet. In unserem Film zu Zwangsheirat sagt ein männlicher Protagonist mit türkischem Hintergrund, dass es seiner Familie vor allem darum gegangen sei, was die anderen Leute dächten. Er sei doch aber nicht mit den anderen Leuten verheiratet, fügt er hier an. Er hat am Schluss selbstbestimmt gehandelt und sich von seiner Ehefrau getrennt. Siehe «was wir tun».

Wer ist von Zwangsheirat betroffen?

Ausmass

Die Stiftung «Surgir» kam 2006 auf umstrittene 17‘000 Fälle für die gesamte Schweiz. Diese Zahl wurde aus 400 real erfassten Fällen extrapoliert. Eine Studie des Bundes von 2012 gelangte mittels einer Umfrage bei Anlaufstellen und Schutzinstitutionen zu 700 Fällen von Zwangssituationen pro Jahr. Darunter fallen die Zwangsheirat, das Liebesverbot und die Zwangsehe (Bleibezwang in der Ehe).

Zum Vergleich: 1‘355 Beratungen im Jahr 2019 verzeichnete die britische Zentralstelle gegen Zwangsheirat, die Forced Marriage Unit (FMU). Die Fachstelle Zwangsheirat hat seit Aufnahme der Beratungen 2005 bis heute in rund 2’750 Fällen beraten (Stand August 2020).

Zum genauen Ausmass der Zwangsheirat in der Schweiz existieren bisher keine wissenschaftlich repräsentativen Untersuchungen. Von einer hohen Dunkelziffer gehen alle aus. Weitere Forschungen sind in diesem Bereich deshalb vonnöten. Siehe «Fragen und Antworten».

Herkunft der Betroffenen

Die Bundesstudie eruiert den «Balkan» (betreffend Personen aus dem westlichen Südosteuropa, wie Kosovo, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, usw.), die Türkei und Sri Lanka als drei Regionen aus denen Menschen stammen, die in der Schweiz häufig von Zwangsheirat betroffen sind. Dies wiederspiegelt auch die Einwanderungsgruppen in der Schweiz. In den USA zum Beispiel stammt die drittgrösste betroffene Gruppe aus Mexiko.  Weitere betroffene Frauen und Männer in der Schweiz stammen unter anderem aus verschiedenen Afrikanischen Ländern wie Eritrea, Somalia oder Äthiopien sowie betroffene Personen aus dem Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan und Syrien. Zwangsheiraten können sowohl in christlichen, muslimischen, hinduistischen, jüdischen, buddhistischen, sowie atheistischen und anderen Gemeinschaften auftreten. Siehe «Fragen und Antworten».

Zwangsheirat kann nicht nur wenig privilegierte oder «bildungsferne» Gemeinschaften, sondern auch privilegierte Personengruppen betreffen, was ein Beispiel aus der Beratungspraxis exemplifiziert: Eine hochqualifizierte Europäerin mit indischen Wurzeln arbeitet in einer multinationalen Firma in der Schweiz. Weil sie das Alter von 26 Jahren erreicht hat, wird sie gezwungen zu heiraten, damit sie nicht zur «Übriggebliebenen» wird.

Nicht nur Frauen werden zur Heirat gezwungen

Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass nur weibliche Personen von Zwangsheiraten oder -ehen betroffen sein können, haben auch in bisher 18% der Fälle männliche Betroffene unsere Beratung gesucht. In Grossbritannien zeigte eine Untersuchung auf, dass 2016 20% der berichteten Fälle bei Beratungsstellen männliche Zwangsheiratsbetroffene waren. Siehe «Fehlannahmen».

Neben männlichen Betroffenen gilt es auch, auf betroffene Paarkonstellationen hinzuweisen. Auch homosexuelle Personen sind aufgrund ihrer entweder im Umfeld bekannten oder unbekannten sexuellen Orientierung von Zwangsheirat betroffen.

Auch Minderjährige sind betroffen

Die staatliche Zentralstelle gegen Zwangsheirat in Grossbritannien, die Forced Marriage Unit (FMU), hat 2016 in 1‘428 Fällen beraten. 371 Personen oder 26% der Beratenen waren Minderjährige. Auf fast den gleichen Anteil, auf 27% der Betroffenen unter 18 Jahren, gelangte 2012 die Bundesstudie für die Schweiz.

Auch in der Schweiz stellt die Fachstelle Zwangsheirat bei Minderjährigen im Schutzalter seit 2016 einen starken Anstieg fest.

Eine weitere verwundbare Gruppe – Menschen mit Behinderung – war in Grossbritannien 2019 in 137 Fällen oder 10 Prozent betroffen. Für die Schweiz richtet die Fachstelle Zwangsheirat das Augenmerk neu ebenfalls auf diese Personengruppe.

Erste oder zweite Generation?

Bei den bei unserer Fachstelle um Unterstützung Suchenden handelt es sich in 80% der Fälle um Betroffene aus der zweiten oder dritten Generation. Gemäss der Bundesstudie zu Zwangsheiraten in der Schweiz von 2012 wurden 38% der Betroffenen in der Schweiz geboren. Junge Erwachsene der zweiten oder auch der dritten Generation, die ihre Kindheit teilweise oder ganz in der Schweiz verbracht haben, sind also am Häufigsten von einer Zwangsverheiratung betroffen. Sie mögen auch durch ihre Sozialisation und ihrer guten Kenntnisse ihrer Rechte dazu geneigt sein, sich gegen ihre Situation zu wehren. Siehe «Fragen und Antworten» sowie «Fehlannahmen».

Gerade auch diese Generationen heiraten oft endogamisch, das heisst jemanden aus der eigenen Herkunftsgruppe. Wenn sie dabei eine Person aus dem Herkunftsland per Ehegatt*innennachzug nachholen, sprechen wir vom sogenannten Da Capo-Effekt. Mit diesem wiederholt sich die Erfahrung der ersten Generation und punkto Generation fängt es wieder von vorne an. Die Nachkommen aus dieser Verbindung können sich nun nicht zur Folgegeneration zählen.

Gründe dafür, eine Ehegattin oder einen Ehegatten aus dem Herkunftsland zu heiraten, sind zum Beispiel der Familiendruck bezüglich sozioökonomischen Aufstiegs, aber auch oft «moralischer» Natur. Eltern, die für ihren Sohn eine möglichst «unverdorbene» Frau aus ihrem Herkunftsland bevorzugen, sehen darin eine Möglichkeit, ihre Söhne auf den «richtigen Weg» zurückzuführen – nämlich auf jenen der Tradition, «Kultur» oder Religion der Eltern und Grosseltern. In den Medien hat sich daher der (negativ besetzte) Begriff der «Importbräute» etabliert. Von dieser Form der Zwangsverheiratung sind auch junge Männer betroffen.

Die nachgezogenen Ehepartner*innen befinden sich oft in einer ausgeprägten Abhängigkeitssituation. Sie können starkem Druck ausgesetzt sein, von der Familie des sich bereits im Aufenthaltsland befindenden Partners, ökonomisch und finanziell, sowie betreffend des durch die Heirat erlangten Aufenthaltsstatus, die sie bei einer Scheidung wieder verlieren würden. Es fehlt ihnen an Wissen über ihre gesetzlichen Möglichkeiten und Hilfseinrichtungen in der Schweiz. Zum Beispiel können Betroffene von Zwangs- oder Minderjährigenheiraten oder auch von häuslicher Gewalt ein zivilstandsunabhängiges Bleiberecht erwirken. Sie müssen bei einer Scheidung oder Trennung also nicht ins Herkunftsland zurückkehren. Siehe «Rechte und Gesetze».