«Ihr Ja-Wort zu Kinderrechten ist ein Nein zur Kinderheirat.»

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Sehr geehrte Damen und Herren
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen

Heute, am 11. Oktober 2019, begehen wir den Internationalen Tag des Mädchens. Das Hinschauen lohnt sich, auch in der Schweiz. Zum Beispiel beim Thema Kinderheirat.

Gegen Minderjährigenheiraten wird weltweit vorgegangen. Zum Beispiel über die Afrikanische Charta zu den Rechten und dem Wohlergehen des Kindes von 1990: In ihr wird die Heirat, wie auch die Verlobung von Personen unter 18 Jahren als schädliche soziale und kulturelle Praktik behandelt, unabhängig davon, ob die minderjährigen Betroffenen gezwungen oder freiwillig heiraten.

Art. 21 Abs. 2: Protection against Harmful Social and Cultural Practices:
«Child marriage and the betrothal of girls and boys shall be prohibited and effective action, including legislation, shall be taken to specify the mini-mum age of marriage to be 18 years and make registration of all marriages in an official registry compulsory.»

UNICEF schätzt die Zahl der Eheschliessungen von Minderjährigen weltweit auf 15 Millionen Fälle pro Jahr. Auch in der Schweiz sind Kinderheiraten ein soziales Problem. Bereits 2012 stellte die Bundesstudie von Anna Neubauer und Janine Dahinden zu Zwangsheiraten fest, dass «knapp ein Drittel der eine Beratung suchenden Personen minderjährig» sei (S. 43). Bei der Fachstelle Zwangsheirat melden sich durchschnittlich fünf, vor den Sommerferien im Schnitt bis zu zehn Betroffene pro Woche. Seit 2016 ist in jedem dritten Fall eine minderjährige Person betroffen. Im Jahr 2018 beriet die Fachstelle Zwangsheirat in 352 Fällen von Zwang rund um Heirat, Liebesbeziehungen und Sexualität, davon ging es in 119 Fällen, also in über einem Drittel der Zwangssituationen, um Minderjährige. Die Zahlen von Minderjährigenheiraten sind seit 2016 angestiegen. Am 3. März 2018 fasste auch die NZZ am Sonntag solche Tendenzen in Zahlen: «Über 100 Zwangsheiraten von Kindern in einem einzigen Jahr». Überwiegend betroffen sind Mädchen.

Demnach leben trotz des Ehefähigkeitsalters von 18 Jahren (Art. 94 ZGB) in der Schweiz verheiratete Kinder. Die Voraussetzung der Volljährigkeit wird manchmal umgangen, indem sie minderjährig verlobt oder religiös oder traditionell verheiratet werden. Ebenfalls werden im Ausland geschlossene Ehen mit Minderjährigen in der Schweiz leider weitgehend weitergeführt, weil nach Art. 105 Ziff. 6 ZGB eine Interessenabwägung möglich ist. Um die Verheiratung Minderjähriger zu vermeiden, ist es wichtig, «glokal» gegen Kinderheiraten vorzugehen und unser Ja-Wort den Kinderrechten zu geben, nicht ihrer Verlobung oder Heirat.

1. Verlobung von Kindern in der Schweiz: Verlobt, nicht verliebt, trotzdem verheiratet
Art. 21 der erwähnten Afrikanischen Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes untersagt die Verlobung von Minderjährigen. In der Schweiz ist die Verlobung Minderjähriger nicht verboten, sondern nur unverbindlich geregelt (Art. 90 Abs. 2 ZGB). Dieses rechtliche «Schlupfloch» verursacht vielen betroffenen Kindern grosses Leiden. Daher sollte nicht nur die Heirat, sondern auch die Verlobung Minderjähriger untersagt werden.

2. Religiöse Kinderheiraten in der Schweiz: Mädchen sind keine Ehefrauen
Vor Schweizer Zivilstandsämtern darf eine Ehe nur geschlossen werden, wenn beide Ehepersonen 18 Jahre oder älter sind (Art. 94 Abs. 1 ZGB). Ebenfalls ist in Artikel 97 Abs. 3 ZGB geregelt, dass eine religiöse Trauung erst im Anschluss an die Ziviltrauung erfolgen darf. Dieses «Primat der Ziviltrauung» sollte unbedingt beibehalten werden: Der Ablauf einer zivilen Trauung ist klar geregelt, das Paar wird im Zivilbuch eingetragen. Eine religiöse Trauung hingegen ist je nach Religion und Gemeinschaft unterschiedlich gestaltet und birgt die Gefahr, dass auch Kinder verheiratet werden. Zu demselben Schluss kam die nationalrätliche Rechtskommission, die im letzten Jahr befürchtete, dass «die Abschaffung des sogenannten Vortrauungsverbots einen Anstieg von Kinder- und Zwangsheiraten zur Folge haben könnte» (Medienmitteilung der Rechtskommission-NR, 6. Juli 2018).
Gegen den Artikel wurden bereits zwei Vorstösse im Nationalrat eingereicht. Es war den Verfassern wohl nicht bewusst, dass das Erlauben der religiösen Heirat vor der Ziviltrauung Kinder- und Zwangsheiraten hätte befördern können. Aufgrund der Erfahrung in der Beratung von konkreten Fällen konnte die Fachstelle Zwangsheirat darauf aufmerksam machen, sodass die politischen Akteure den Vorstoss erfreulicherweise zurückzogen; letztmals im September 2019. (17.470, Parlamentarische Initiative, Zanetti; 17.3693, Motion, Page).

Das Primat der Ziviltrauung («religiöse Verheiratung erst nach der Ziviltrauung») trägt dazu bei, Kinderheiraten zu verhindern. Das Wissen dazu ist notwendig: Es braucht eine grössere, breite Sensibilisierung in der Gesellschaft über das bestehende Verbot der religiösen Trauung vor der Ziviltrauung. Es ist ein Beitrag zur Verhinderung von Kinderheiraten!

3. Ausländische Kinderheiraten in der Schweiz: faktisch doch Realität
Artikel 94 des schweizerischen Zivilgesetzbuches setzt das Ehefähigkeitsalter zwar auf 18 Jahre fest. Werden die Heiraten allerdings im Ausland geschlossen, ist es durch die erwähnte «Interessenabwägung» (Art. 105 Abs. 6 ZGB) in der Schweiz doch möglich, solche Ehen weiterzuführen. In der Praxis besteht nämlich eine Anerkennung, sobald die Ehepersonen das 18. Altersjahr erreicht haben: Beim Erreichen der Volljährigkeit gelten solche Ehen dann als «geheilt», womit ein grosser Teil der Weiterführung von Kinderheiraten in der Schweiz unintendiert geduldet wird. Anders in den Niederlanden: dort wurde 2015 beschlossen, im Ausland geschlossene Ehen von Minderjährigen nicht mehr anzuerkennen. Im Sinne der Sorgfaltspflicht des Staates sollte die Schweiz diesem Beispiel folgen und diesen Kindern den Schutz bieten.

Mit diesen drei Massnahmen können wir auch in der Schweiz faktisch gegen Kinderheiraten vorgehen. Dazu brauchen wir Ihre Unterstützung, indem Sie mit Ihrem persönlichen Wirken diesen Anliegen Gehör verschaffen und auf diese Weise dazu beitragen. So wird in Zukunft in der Schweiz das Kindsein geschützt: jedes Mädchen darf Kind bleiben wird und muss nicht frühzeitig zur Ehefrau werden. Schliesslich steht es auch in der Präambel unserer Bundesverfassung: «…die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.» Stellen Sie sich da nun mal vor, wie stark wir sein können, ermöglichen wir allen Power-Girls ihre Rechte und Freiheit! Feiern wir so zusammen den Internationalen Tag des Mädchens.

Wir danken Ihnen für Ihren Einsatz und für die Zusammenarbeit für die Rechte der Mädchen – im Sinne der Sensibilisierung ist die Weiterleitung dieser Nachricht explizit erlaubt und erwünscht. Merci.

Freundliche Grüsse

Anu Sivaganesan, MLaw, Juristin
Präsidium
Migration & Menschrechte
sivaganesan@migration.org
M: 079 911 00 00

Bettina Frei, Dr. phil. I
Geschäftsleitung
Fachstelle Zwangsheirat
frei@zwangsheirat.ch
T: 021 540 00 00