Als Verbrechen im Namen der Ehre bezeichnet man solche Verbrechen, die an Personen begangen werden, welche die Ehre ihrer Familie oder Gemeinschaft verletzt haben sollen. Die fehlbare Person wird bestraft, der Ehrverlust wird gerächt und die Ehre soll dadurch wiederhergestellt werden. Die extremste Form von Gewalt im Namen der Ehre ist der «Ehrenmord». Jährlich werden nach einer Studie des UN-Weltbevölkerungsberichts rund 5‘000 Mädchen und Frauen in mindestens 14 Ländern im Namen der «Ehre» ermordet. Die Dunkelziffer ist jedoch vermutlich viel höher, weil die wenigsten Fälle vor Gericht gebracht werden. Häufig wird nämlich ein Mord als Unfall oder Selbstmord getarnt oder die Frauen werden gezwungen, Selbstmord zu begehen. (Quelle: Positionspapier amnesty international, Deutschland)

Der Ehrenkodex

In manchen Gemeinschaften hängen die persönliche Würde einer Person und die kollektive Ehre der Familie und Sippe eng miteinander zusammen. Das gemeinschaftliche Leben ist nach einem gewohnheitsrechtlichen Ehrenkodex organisiert, der oft stärker verwurzelt ist als verfassungsmässige Rechte und Gesetze. Ehrkonformes Verhalten garantiert einerseits die Solidarität der Gemeinschaft und resultiert anderseits aus der Angst, von ihr ausgeschlossen zu werden. Dabei obliegt es den Männern, die Ehre der Familie und der Familienmitglieder, insbesondere der weiblichen, gegen aussen zu schützen. Währenddessen sorgen Mütter, Grossmütter und Schwiegermütter dafür, dass die Heranwachsenden die Normen und Werte sowie geschlechtsspezifische Verhaltensstandards ihrer Herkunftskultur erwerben und sich daran halten. Es herrscht sozusagen eine «sozialmoralische Arbeitsteilung» zwischen Frauen und Männern bei der Weitergabe und Aufrechterhaltung der kollektiven Ehre.

Die Ehrverletzung und -wiederherstellung

Welches Verhalten die «Ehre» verletzt, wird in vielen Gemeinschaften und Gesellschaften unterschiedlich definiert. Im Zusammenhang mit Ehrverbrechen sind bestimmte Erwartungen in Bezug auf das tradierte Rollenverhalten von Frauen besonders relevant. Gefordert werden etwa – je nach Alter und Status – sexuelle Reinheit und Keuschheit, Zurückhaltung und Gehorsam. Weichen Frauen von diesem Rollenbild ab, verlieren sie – in den Augen ihrer Familie – nicht nur ihre eigene Ehre, sondern beeinträchtigen auch die kollektive Ehre. Die Ablehnung des vorgesehenen Ehepartners, die Flucht vor einer Zwangsheirat, tatsächliche bzw. angebliche aussereheliche Beziehungen oder auch Vergewaltigung gelten als die wichtigsten Rollen- und Ehrverstösse. Dies zeigt, dass die weibliche Ehre in traditioneller Sicht unauflöslich mit der Sexualität der Frauen, insbesondere mit ihrer Jungfräulichkeit, zusammenhängt (auch «Traditionshüterinnen»).

Wie gross der Druck zur Wiederherstellung der Ehre ist, hängt von der öffentlichen Bekanntheit des Vorfalls ab. Wenn dieser Druck und die Furcht vor sozialer Ausgrenzung übermächtig werden und die Familie gleichzeitig keine gesellschaftlich anerkannte Alternative sieht, kann es sein, dass sie zum Mittel der Selbstjustiz greift. Dass Ehrverbrechen gewöhnlich von Männern (Brüdern, Vätern, Onkeln) ausgeführt werden, hat mit der traditionellen Rollenaufteilung zu tun. Oft führen dann unverheiratete oder gar minderjährige, männliche Familienmitglieder die Tat im Auftrag der Familie aus. Sie können aufgrund ihres Alters mit einer geringeren Strafe «davonkommen» und andererseits haben sie keine Verantwortung für Frau und Kinder wahrzunehmen. Dabei sind diese Täter ebenfalls starken Rollenerwartungen ausgesetzt. Auf ihnen lastet der Druck, sich als ehrenhafte Männer zu erweisen. Doch auch Männer können Opfer von Ehrverbrechen sein, nämlich dann, wenn sie angebliche oder tatsächliche Liebhaber einer «gefallenen» Frau sind.

Um unehrenhaftes Verhalten gar nicht entstehen zu lassen, versuchen manche Familien, ihre weiblichen Mitglieder von den als verunreinigend wahrgenommenen Gefahren der Mehrheitsgesellschaft fernzuhalten. Oft werden dabei Brüder und Cousins als «Beschützer» und «Behüter» eingesetzt (auch «Traditionswächter»). Für sie ist diese Rolle eine Möglichkeit, mit enttäuschten Hoffnungen, Diskriminierungserfahrungen und mit ihrer benachteiligten, unterprivilegierten Stellung in der Mehrheitsgesellschaft umzugehen. Sie idealisieren ihre Herkunftskultur und konstruieren so ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den «Einheimischen».

In extremen Fällen kann es dann sogar so weit kommen, dass sie das Gefühl haben, eine verletzte Ehre wiederherstellen zu müssen. So warnt der Pädagoge und Ethnologe Werner Schiffauer davor, hinter jedem Ehrverbrechen einen Familienentscheid zu sehen und dadurch das Problem einseitig der «Kultur» zuzuschreiben. Schiffauer fordert vielmehr, neben kulturellen auch soziale Faktoren zu berücksichtigen. Hier ist auch die Mehrheitsgesellschaft, die das ihre zur Ausgrenzung und Deklassierung von Minderheiten beiträgt, in die Verantwortung zu nehmen.

Andere Formen von Ehrverbrechen

Es gibt jedoch auch noch andere Formen von Ehrverbrechen. Die Blutrache ist eine davon. Hat sich eine Person – und mit ihr die ganze Familie – durch Übertretung des Gewohnheitsrechts, durch eine schwerwiegende Beleidigung, durch Diebstahl, eine Verletzung oder gar Tötung einer Person schuldig gemacht, droht ihr und der Familie Vergeltung, meistens der Tod. Nicht selten wird dann die vollzogene Vergeltung wiederum mit einem Gegenschlag gesühnt. So kann sich eine Blutrache sogar über Jahre hinziehen. Bekannt für solche Fälle sind etwa Sardinien, Sizilien, Korsika und (Nord-) Albanien. Der Blutrache fallen mehrheitlich Männer und männliche Jugendliche zum Opfer.

Die hier geschilderten Ehrvorstellungen finden sich in verschiedenen Religionen. Ihre Wurzeln haben sie jedoch vermutlich nicht in religiösen Vorstellungen, sondern in (älteren) Stammestraditionen. Allerdings werden (angebliche) Traditionen und konservative Rollenbilder oft gerade von streng religiösen Menschen, Familien und Gemeinschaften besonders hochgehalten. Deshalb findet man die Betonung weiblicher Ehre in orthodoxen christlichen, islamischen, jüdischen oder auch hinduistischen Milieus.

Position der Fachstelle Zwangsheirat

Der Begriff ehrbasierte Gewalt oder «honour-based violence» ist in gewissen europäischen Ländern weit verbreitet, so etwa in Grossbritannien. Er wird dort auch verwendet, um Zwänge rund um Heirat, Sexualität und Beziehung zu bezeichnen. Gleichzeitig ist der Begriff umstritten, weil Ehre in der Moderne durchaus auch positiv konnotiert sein kann. Beim negativ besetzten Ehrbegriff wird die Menschenwürde nicht mitbedacht – sie wird ja vielmehr «im Namen der Ehre» verletzt. Die Fachstelle Zwangsheirat zieht deshalb den Begriff «EhrVERGESSengewalt» vor, um Rechtsverletzungen, die im Namen der Ehre ausgeführt werden, zu umschreiben. In der Moderne existiert keine Ehre, ohne dass die Respektierung des Individuums mitgedacht ist. Die Würde des Individuums gilt als unantastbar und ist als solche menschenrechtlich verankert. Das Ehrkonzept wird als Naturrecht auch zum rechtlich schützenswerten individuellen Gut. Damit sind die Würde des Individuums und der Würde-Begriff an die individuelle Ehre gebunden. Wer die Ehre eines Individuums verletzt (z.B. durch üble Nachrede Art. 173 StGB), verletzt zugleich dessen Würde und umgekehrt. Eine Rechtsübertretung geschieht also nie auf Grundlage der Ehre eines Individuums, sondern immer gegen dessen Ehre.