In den Medien sind mittlerweile regelmässig Erfahrungsberichte über von Zwangsheirat Betroffene und Bedrohte zu lesen. Dabei wecken die besonders «spektakulären» Fälle am meisten Aufmerksamkeit. Sie lesen hier einige dieser Geschichten, daneben aber auch andere, «stillere» Schicksale.

Schweiz

Mit 14 Jahren kam Hüriye mit ihren Eltern in die Schweiz. Zunächst wurde von ihr erwartet, dass sie zu Hause bleibt und der Mutter bei der Hausarbeit hilft. Sie konnte jedoch durchsetzen, dass sie während zwei Jahren eine Fremdsprachenklasse und eine weiterführende Schule besuchen durfte. Aufgrund mangelnder Zugangschancen absolvierte die junge Frau eine Anlehre zur Coiffeuse und arbeitete auf diesem Beruf. Während eines Ferienaufenthalts in der Türkei befahl ihr der Vater, ein Formular zu unterschreiben. Ohne zu wissen, um was es sich handelte, hatte sie eine Heiratsurkunde unterschrieben, die bescheinigte, dass ihr Cousin nun ihr Ehemann sei. Auch er wurde von seinen Eltern zu dieser Heirat gezwungen. Er blieb aber vorerst in der Türkei, um seine Ausbildung zu beenden. In Basel suchte Hüriye daraufhin vergeblich um Hilfe beim Basler Jugendamt und anderen Amtsstellen. Ihr Ehemann hatte mittlerweile den Standpunkt eingenommen, dass er die Ehe doch vollziehen wolle und reiste in die Schweiz. Als Hüriye die Umstände dieser Ehe und die ständige Kontrolle durch ihren Ehemann nicht mehr aushielt, flüchtete sie in ein Frauenhaus. Vater und Ehemann hatten sie an der Trennung hindern wollen.

Amira (Name geändert) kam als 4-jähriges Kind mit ihren Eltern aus Albanien in die Schweiz. Die Eltern hatten hauptsächlich Kontakt zu Landsleuten und pflegten den traditionellen Lebensstil, den sie aus Albanien kannten. Je älter Amira wurde, desto mehr wurde sie in ihren Freiheiten beschnitten. So sollte sie sich nicht unnötig auf der Strasse aufhalten, weil die Familie sich um ihren guten Ruf sorgte. Keine Frage war, dass sie dereinst einen Albaner heiraten sollte. Mit 17 Jahren verliebte sie sich in einen muslimischen Albaner. Die Eltern waren dennoch gegen diese frei gewählte Beziehung. Kurzerhand verliess Amira das Elternhaus und zog ins Haus der Eltern ihres Freundes. Dort kam ihr nun jedoch die Rolle der traditionellen Schwiegertochter zu, was bedeutete, dass sie alle bedienen musste und strikt kontrolliert wurde. Sie flüchtete deshalb zu einer Kollegin, die in einer ähnlichen Situation war. Amiras Freund akzeptierte die Trennung nicht und bedrohte sie so lange, bis Amira ihm mit einer Anzeige drohte. Für ihren Vater war sie mit der Trennung nun endgültig «gestorben». Mit ihrer Mutter hat sie nach Jahren wieder sporadischen Kontakt. Doch auch sie akzeptiert nicht wirklich die Lebensweise ihrer Tochter. Stattdessen hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben, Amira mit einem Mann aus Albanien vermählen zu können. Selbst der ältere Bruder hält nicht zu ihr und wirft ihr vor, die Familienehre geschändet zu haben.

Demet A. konnte sich wie Hüriye nicht gegen ihre Zwangsverheiratung wehren. Während eines Ferienaufenthalts in der Türkei wurde sie von ihrem Vater in ein Zimmer gesperrt, weil sie wenige Tage später ihren Cousin heiraten sollte. Eine Flucht war unmöglich. Bei der Unterschrift des Heiratsvertrags waren die Familienangehörigen zugegen. Während ihrer Ehe, die sie mit ihrem Cousin in der Schweiz führte, durfte sie nicht mit Freundinnen ausgehen. Damals wusste sie nicht, dass es in der Schweiz Stellen gibt, dir ihr hätten helfen können. Erst nach einem Selbstmordversuch wurde sie an entsprechende Anlaufstellen verwiesen. Demet will, dass ihrer heute 15-jährigen Tochter nicht das Gleiche widerfährt.

Deutschland

Mit 17 Jahren sah sich Seyran Ates mit der Forderung der Verwandten konfrontiert, einen türkischen Mann, ihren Cousin, zu heiraten. Zuerst nahm sie darin eine Möglichkeit wahr, sich aus den Fängen der Eltern zu befreien, die ihre Tochter nach strengen traditionell-familialistischen Regeln erzogen hatten. Selbst nach 11 Jahren in Deutschland empfanden sie die Mehrheitsgesellschaft als bedrohlich und unmoralisch. Ihre Kinder sollten so wenig wie möglich damit in Kontakt kommen. Seyran Ates sah hingegen in der individualisierten Lebensweise der Deutschen die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Damals wogen mögliche Nachteile dieses Lebensstils nicht schwer. In der Schule konnte sie dieses Bedürfnis teilweise ausleben. Die Forderungen der Eltern auf der einen Seite und jene der Schule auf der anderen empfand Seyran Ates als zunehmend unvereinbar. Sie entschied sich dann kurz vor ihrem 18. Geburtstag doch gegen die Heirat und damit gegen ein Leben nach traditionellen türkisch-kurdischen Normen. Sie sah als einzigen Ausweg die Flucht von zuhause, um nach ihren Wünschen leben zu können, was unter anderem eine Partnerschaft mit einem deutschen Mann und ein Jurastudium beinhaltete. Denn Seyran Ates hatte schon mit 15 Jahren beschlossen, Rechtsanwältin zu werden, insbesondere angesichts der Leidenssituation vieler Frauen, die sie in deren Unkenntnis über ihre eigenen Rechte begründet sieht. Obwohl sie bei einem Attentat durch einen türkischen Nationalisten auf das Kreuzberger Frauenprojekt TIO, ein Treffpunkt für Frauen und Mädchen aus der Türkei, schwer verletzt wurde, konnte sie ihr Studium nach Jahren fortsetzen. Heute begegnet sie bei ihrer Arbeit als Rechtsanwältin vielen Scheidungsmandantinnen, die zwangsverheiratet wurden. Ausserberuflich setzt sie sich durch zahlreiche Auftritte für die individuellen und demokratischen Grund- und Freiheitsrechte, vor allem der Frauen und Mädchen islamischer Herkunft, ein. Ihre Lebensgeschichte hat Seyran Ates im Buch «Grosse Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin» (2003, erschienen beim Rowohlt Verlag) veröffentlicht.

Serap Cileli folgte ihren Eltern mit 8 Jahren nach Deutschland. Ihre Kindheit hatte sie behütet bei den Grosseltern in der Türkei verbracht. Mit 12 Jahren wurde sie bereits einer ihr unbekannten Familie als zukünftige Schwiegertochter versprochen. Die beengende Erziehung der alevitischen Eltern und das Heiratsversprechen trieben sie zu einem Selbstmordversuch. Die Verlobung wurde zwar aufgelöst, aber bereits mit 15 Jahren wurde sie mit einem anderen, 10 Jahre älteren Mann in der Türkei zwangsverheiratet und dort zurückgelassen. Nach sechs Jahren Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen, willigten die Eltern nach jahrelangem Drängen in eine Scheidung ein. Damit war es Serap aber nicht erlaubt, eine Beziehung mit einem anderen Mann zu führen. Um sie unter Druck zu setzen, nahm ihr die Mutter die Kinder weg und brachte sie nach Deutschland. Serap täuschte eine Trennung von ihrem neuen Partner vor und reiste ihren Kindern nach Deutschland nach. In Deutschland wollten die Eltern Serap in eine erneute Zwangsehe drängen, woraufhin sie in ein Frauenhaus flüchtete. Während der ganzen Zeit stand sie mit ihrem neuen Partner in Kontakt. Damit er im Zuge der Familienzusammenführung legal nach Deutschland kommen konnte, heirateten sie in der Türkei standesamtlich.
Ihre Geschichte hat Serap Cileli schon mehrfach erzählt, um auf das Problem der Zwangsheirat aufmerksam zu machen und um aufzuklären. Sie ist auch in ihrem Buch «Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre» (2002, Neuthor Verlag) nachzulesen.

Necla Kelek hatte selber zwar keine Zwangsheirat erlebt, aber in ihrem sozialen Umfeld in Deutschland und in ihrer Studie über «Importbräute» ist sie vielen Frauen begegnet, die nicht in eine arrangierte Heirat eingewilligt hatten oder nur unter grossem Druck. Doch auch Necla Kelek erfuhr, wie sich die eher liberalen Eltern in Deutschland, als ihre neue Heimat, von den traditionell-konservativen Einstellungen türkischer Landsleute beeinflussen liessen und wie andere Werte wichtiger wurden. So musste Necla Kelek mit ihrer Mutter zusammen neben ihrer Lehre die Hausarbeit übernehmen und durfte sich nicht unbegründet auf der Strasse aufhalten. Necla erhielt dann die Chance, sich über den zweiten Bildungsweg auf ein Studium vorzubereiten. Der Vater, der bereits gegen den Gymnasiumsbesuch gewesen war, hatte die Familie vorher verlassen. Die Mutter liess sich von den Möglichkeiten, die sich ihrer Tochter eröffneten, überzeugen. Auf diese Weise konnte sich Necla Kelek von einengenden Lebensvorstellungen emanzipieren.

Fatma Bläsers Geschichte weist insofern Parallelen mit den anderen auf, als dass auch sie mit 9 Jahren ihren kurdischen Eltern nach Deutschland nachreiste, wo sie ein Leben nach einem strengen traditionalistischen und familialistischen Werte- und Normensystem führte. Auch ihre Eltern konnten wenig Deutsch und lebten in einer Parallelwelt. Den sozialen Halt bot der Familienverband. Eine Heirat der Tochter ausserhalb dieses Kreises hätte die Eltern ins soziale Abseits gestellt. So war geplant, dass Fatma Bläser in ihrem 18. Lebensjahr einen Cousin in den Sommerferien in der Türkei heiraten sollte. Obwohl sie das wusste, reiste sie mit ihren Eltern in die Türkei, weil ihr keine andere Wahl blieb. Dort konnte sie ihren Vater jedoch davon überzeugen, dass es besser wäre, die Heirat erst in ein oder zwei Jahren zu schliessen, damit sie in Deutschland noch arbeiten und so mithelfen könnte, die Schulden des Vaters abzuzahlen. Daraufhin willigte der Vater ein. Zurück in Deutschland bereitete sie heimlich ihre Hochzeit mit einem deutschen Mann vor, den sie vor den Türkeiferien kennen gelernt hatte, und floh, wenn auch schweren Herzens, aus ihrem Elternhaus. Danach war sie für lange Zeit von der Familie verstossen.

Frankreich

In Frankreich sorgte die Geschichte von Fatouma für Schlagzeilen. Bevor die 17-jährige Französin während den Weihnachtsferien von ihren Eltern zur Familie in den Senegal geschickt wurde, hinterliess sie ihren Freundinnen einen Brief, da sie befürchtete, mit einem unbekannten Mann zwangsverheiratet zu werden. Tatsächlich kehrte Fatouma nach den Ferien nicht mehr zurück. Die Freundinnen berichteten von Fatoumas Befürchtungen, woraufhin ein Unterstützungskomitee gegründet wurde, um die Jugendliche zu befreien. Der Vater, der von diesen Befreiungsabsichten durch eine Pressekonferenz erfuhr, holte seine Tochter zurück, um sich nicht selbst in Schwierigkeiten zu bringen.

Österreich

Ainur wurde als 15-jährige nach ihrem Hauptschulabschluss einem Bekannten aus der gleichen Kleinstadt im Nordwesten Aserbaidschans versprochen. Die Verlobung wurde in den letzten Schulferien gefeiert, ohne dass die junge Frau zuerst wusste, worin der Anlass der Feier bestand. Um der Hochzeit zu entgehen, flüchtete Ainur von Österreich in die Schweiz zu ihrem Freund, den sie aus ihrer Kindheit kannte. Dort konnte sie jedoch nur drei Monate lang legal bleiben, weil sie als Minderjährige ohne Erlaubnis der Eltern keine Ehe eingehen kann.

BaZ (18.7.2005). «Hüriye, jetzt bist du verheiratet!»

Beobachter (13.10.2005). Zwangsehe: verheiratet, verzweifelt.

EMMA (Juli/August 2005). Frankreich gegen Zwangsehen.

NZZ am Sonntag (1.5.2005). Die geflüchtete Braut.

Tagesanzeiger.ch (22.9.2005). «Es bringt nichts, wenn ich Hass empfinde.»

Ates, Seyran (2003). Grosse Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin. Rowohlt Verlag.

Bläser, Fatma (2005, 6. Auflage). Hennamond: Mein Leben zwischen zwei Welten. Ullstein Taschenbuch.

Cileli, Serap (2002). Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre. Neuthor Verlag.

Kelek, Necla. Die fremde Braut (2005). Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland. Verlag Kiepenheuer & Witsch.