Zwangsheirat wirft Fragen auf.

Wichtige Fragen müssen dazu gestellt und beantwortet werden. Die Auseinandersetzung mit ihnen trägt zu einem besseren Verständnis und auch dazu bei, dass das Menschenrecht der freien Partner*innenwahl für alle in der Schweiz nachhaltig verankert werden kann.

Wenn Sie noch mehr Fragen haben, können Sie uns diese gerne per Kontaktformular oder E-Mail stellen.

Häufig gestellte Fragen rund um das Thema Zwangsheirat sind zum Beispiel folgende:

Warum gibt es Zwangsheiraten?

In der Einwanderungsgesellschaft Schweiz, wo jede dritte Person ausländische Wurzeln hat, können neue Dynamiken entstehen. Auch bei Zwangsheiraten.

Diese einfach nur als «Import» aus den Herkunftsländern der Gruppen zu sehen, bei denen Zwangsheiraten vorkommen können, greift zu kurz. Es spielen multilokale Effekte mit, dass Zwangsheiraten in vielkulturellen Gesellschaften wie der Schweiz entstehen. Wir unterscheiden den Herkunftseffekt, den Migrationseffekt und den Diasporaeffekt. Diese können in zeitlicher Abfolge, aber auch gleichzeitig zu Zwangsheiraten in der Schweiz beitragen.

Betreffend dem Herkunftseffekt werden zum Beispiel Vorstellungen von Jungfräulichkeit oder Geschlechterrollen aus dem Kontext des Herkunftslandes in die Schweiz übertragen. Während der Migrationsphase – beispielsweise auf der Flucht oder bevor der Prozess des Ankommens in einem Aufnahmeland abgeschlossen ist – können die Rahmenbedingungen sozioökonomischer Unsicherheiten und die Bedrohungslage Zwangsheiraten auch verstärken. Gemäss einer UNICEF-Studie von 2014 liegt der Anteil der minderjährig verheirateten Personen in Syrien bei 13%, in der syrischen Bevölkerungsgruppe in den jordanischen Flüchtlingslagern aber bei 32%. In der Situation im Wohnland Schweiz wiederum kann unter anderem Ausgrenzung zu Abgrenzung führen und der Zwang, innerhalb der eigenen Herkunftsgruppe heiraten zu müssen (Endogamiezwang), kann eine Zwangsheirat befördern. Oder Eltern möchten ihre Söhne und Töchter durch eine Heirat mit einem oder einer Partner*in aus dem Herkunftsland vor – aus ihrer Sicht – schädlichen Einflüssen der Mehrheitsgesellschaft im Immigrationsland schützen. Der allfällige Preis kann eine Zwangsheirat sein.

Zwangsheirat ist also vielschichtig und hat vielseitige Ursachen.
Deshalb wird im Rahmen der Aktivitäten der Fachstelle Zwangsheirat auch wissenschaftliche Forschungsarbeit betrieben.

Welche weiteren Gründe für Zwangsheiraten genannt werden, erfahren Sie unter «Ursachen». Zur wissenschaftlichen Arbeit erfahren Sie mehr beim «wissenschaftlichen Kuratorium».

Was ist der Unterschied zu einer arrangierten Ehe?

Der wesentliche Unterschied zu einer arrangierten Heirat liegt darin, dass bei einer Zwangsheirat die Ehe gegen den Willen der Braut und/oder des Bräutigams geschlossen wird. Die Brautleute werden mit verschiedenen Mitteln in einer Weise unter Druck gesetzt, dass sie sich nicht widersetzen können. Bei einer arrangierten Heirat haben die Brautleute hingegen grundsätzlich die Möglichkeit, der Wahl des/der Heiratspartner*in zuzustimmen oder abzulehnen.

Ob die Brautleute eine echte Wahlmöglichkeit haben, ist allerdings nicht immer einfach erkennbar. So gehen auch die Meinungen darüber auseinander, wo die Grenze zwischen einer Zwangsheirat und einer arrangierten Heirat zu ziehen ist. In der Beratungspraxis ist es deshalb wichtig, dass die Betroffenen den Zwang, unter dem sie stehen, auch ausdrücken und dagegen vorgehen wollen. Im Rechtsstaat kann eine Zwangsheirat als Offizialdelikt auch nachträglich annulliert werden.

Aber es gibt auch Kritiken zur Definition und Unterscheidung von Zwangs- und arrangierter Heirat, siehe: «Drei Perspektiven».

Für mehr Informationen verweisen wir Sie auch auf «Begriffe und Definitionen», sowie die Definitionen von Zwangsheirat und arrangierter Heirat.

In welchen Gruppen kommen Zwangsverheiratungen vor?

Die Bundesstudie zu Zwangsheirat von 2012 eruiert das westliche Südosteuropa (beispielsweise Personen aus dem Kosovo, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, usw., in der Studie «Balkan» genannt), die Türkei und Sri Lanka als die Herkunftsländer von Personengruppen, wo Zwangsheiraten häufiger vorkommen.

Dies spiegelt damit die migrantischen Bevölkerungsteile in der Schweiz wieder. In den USA zum Beispiel sind Mexikaner*innen die drittgrösste von Zwangsheirat betroffene Gruppe.

Aber auch in kleineren religiösen und kulturellen Gemeinschaften wie den Roma, bei orthodoxen Christ*innen (Aramäer*innen) aus dem Nahen Osten, oder den Sikhs stellen Zwangsheiraten ein soziales Problem dar. Es gibt zudem betroffene Frauen und Männer (u.a.) aus ostafrikanischen Ländern wie Eritrea, Somalia oder Äthiopien, sowie Betroffene aus dem Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan, Syrien oder Tschetschenien. In der Beratungspraxis der Fachstelle Zwangsheirat verzeichnen wir eine Zunahme der Betroffene der «neuen Migrationswellen», etwa aus Eritrea, Afghanistan, dem Irak und Syrien.

Solche Zuteilungen nach Herkunftsländern sind aber auch schwierig, weil die meisten Personen, die von Zwangsheirat in der Schweiz betroffen sind, hier geboren und/oder aufgewachsen sind, den Schweizer Pass oder doppelte Staatsangehörigkeit haben. Die Herkunfts- und Eigenidentitäten von Betroffenen haben also viele Facetten.
Mehr Informationen finden Sie bei «Ursachen».

Wie gross ist das Ausmass?

Mittels einer Onlineumfrage bei Anlaufstellen und Schutzinstitutionen kam die Studie des Bundes von 2012 auf 700 Fälle von Zwangsbeziehungen pro Jahr. Darunter fallen Zwangsheiraten, Liebesverbote und Zwangsehen (Bleibezwang in der Ehe). Die Stiftung «Surgir» hatte 2006 gesamtschweizerisch 17‘000 Fälle für einen Zeitraum von 18 Monaten errechnet, was jedoch umstritten ist. Bis heute hat die Fachstelle Zwangsheirat in rund 2’750 Fällen beraten (Stand August 2020).

Wissenschaftlich repräsentative Untersuchungen zum effektiven Ausmass der Zwangsheirat in der Schweiz existieren bisher keine. Aus finanziellen Gründen wird auf eine solche Erhebung verzichtet. In anderen Ländern existieren solche Statistiken:

1‘355 Beratungen im Jahr 2019 verzeichnete die britische Zentralstelle gegen Zwangsheirat, die Forced Marriage Unit (FMU). 3‘000 Fälle hatte die US-amerikanische Organisation Tahirih Justice Center in einer Umfrage bei Anlaufstellen für den Zeitraum 2010/2011 erhoben. Oder bei einer Studie zu Gewalt an Frauen in Deutschland wurden 150 Frauen mit türkischem Hintergrund auch nach Zwangsheirat gefragt. Hier gaben rund die Hälfte der Befragten an, dass der Partner von Verwandten gewählt wurde und 25% sagten aus, sie hätten den Partner vor der Heirat nicht gekannt. 17% der Frauen, deren Partner durch Verwandte ausgewählt worden waren, hatten zum Zeitpunkt der Eheschließung das Gefühl, zu dieser Ehe gezwungen zu werden. Die Studie gibt einen Hinweis auf die Prävalenz der Thematik in der türkischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland die erschreckend ist. Dies liesse sich auch auf die Schweiz übertragen. (Siehe: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2013. Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt an Frauen in Deutschland, S. 131f).

Von einer hohen Dunkelziffer gehen alle aus. Weitere Forschungen sind in diesem Bereich deshalb vonnöten.

Sind Frauen häufiger betroffen als Männer?

Nur gerade rund ein Fünftel der von Zwangsheirat betroffenen oder bedrohten Personen, die sich bei Fach- und Beratungsstellen melden, sind Männer.

Die britische Forced Marriage Unit zählte für das Jahr 2019 19% männliche Betroffene. Dies entspricht den Erfahrungen in der Beratungspraxis der Fachstelle Zwangsheirat, wo es ebenfalls 19% sind (2019).

Die tatsächliche Zahl der männlichen Betroffenen, die unter einem Zwang zur Heirat leiden, dürfte aber weit höher liegen. Denn schliesslich finden Zwangsheiraten immer zwischen einer Frau und einem Mann statt. Jede Zwangsheirat ist also eine heterosexuelle Heirat, so wird auch für einen homosexuellen Mann eine Frau gesucht und kein gleichgeschlechtlicher Partner. Auch in unserer Beratungspraxis haben wir Fälle von homosexuellen Personen, die zwangsverheiratet werden sollen.

Dass Männer sich weniger melden, hat mit dem Druck durch männliche Rollenbilder zu tun. Männer fragen weniger um Unterstützung nach und versuchen, sich mit der Situation zu arrangieren. Dies ist auch bei anderen Beratungs- und Anlaufstellen der Fall, wo es nicht um Zwangsheirat geht und nicht nur Männer mit Migrationshintergrund betroffen sind. Beispielsweise sind bei der Dargebotenen Hand 2016 gerade mal 30% Männer beraten worden. Männer werden damit Opfer des patriarchalischen, männerdominierten Systems. Wir nennen dies auch «patriarchalische Selbstgeisselung».

Männer verfügen zudem in praktisch allen Gesellschaften, ob traditionalistisch-konservativ oder modern, über mehr und andere Ressourcen, um mit einer solchen Zwangssituation umzugehen als Frauen. Dies kommt beispielsweise im Film «Gegen die Wand» zur Sprache. Um die Freiheit zu leben, nach der sich die junge Deutsch-Türkin Sibel (Darstellerin Sibel Kikelli) sehnt, muss sie eine Heirat zum Schein eingehen.

Andererseits gibt es auch Fälle, in denen junge Männer ihre Freundinnen zu einer Heirat zwingen, indem sie sie erpressen und damit drohen, dass sie die Familie über voreheliche sexuelle Kontakte in Kenntnis setzen werden – so geschehen im schweizweit ersten zweitinstanzlichen gerichtlichen Urteil zu Zwangsheirat bei zwei Schwestern, die von einer Zwangssituation rund um eine Heirat betroffen waren. Hier wurde der Ehemann der einen Schwester auch deswegen verurteilt.

Eine solche Erpressung kommt dadurch zustande, weil Ehrverletzungen insbesondere bei Frauen konstruiert werden. In traditionalistisch-konservativen Gemeinschaften werden Frauen als «Trägerinnen der Ehre» – also ihrer sexuellen Enthaltsamkeit und Jungfräulichkeit bis zur Ehe – und Männer als die «Hüter der Ehre» gesehen.

Im Roman «Ehre» der türkischstämmigen Autorin und Sozialwissenschaftlerin Elif Shafak, in dem sie eine kurdische in der Türkei lebende Familie portraitiert, sagt die Mutter zu ihren Töchtern: «Die Sittsamkeit ist der einzige Schild einer Frau. Denkt immer daran: Wenn ihr ihn verliert, seid ihr keinen angeschlagenen Kuruş mehr wert. Ich werde jedenfalls kein Mitleid mit euch haben.»

Und der Psychologe und Autor Ilhan Kizilhan schreibt zu jesidischen und kurdischen Gemeinschaften zur Ehre:

«Ausweis der Frauenehre und der Familienehre ist die sexuelle Unversehrtheit der Frau, d.i. die Keuschheit vor der Ehe und die Treue in der Ehe. Die gesamte Rechtseinheit der Familie, vertreten durch den Haushaltsvorstand als Oberhaupt der Familie, ist in erster Instanz verantwortlich für die Bewahrung der Frauenehre.» In diesem Kontext spricht der Autor und Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak von der «Doppelmoral der Ehre».

Mehr zum Thema «Ehre» erfahren Sie bei «Ursachen» und im «Glossar».

Literatur:
Ilhan Kizilhan. 2002. Konflikte und Konfliktlösungen in patriarchalischen Gemeinschaften am Beispiel der
Solidargruppen in Ostanatolien. In: conflict & communication online, Vol. 1, No. 1, 2002, p. 2
Ahmet Toprak. 2005. Das schwache Geschlecht: die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre. Lambertus Verlag.
Elif Shafak. 2014. Ehre. Verlag Kein und Aber.

Was hat Zwangsheirat mit Religion zu tun?

Auch Religion kann nebst anderen Ursachen bei Zwangsheiraten eine Rolle spielen. Schliesslich beinhalten diverseste religiöse Schriften eine Reihe von Vorschriften zu Heirat und Ehe. Aber Religion als einzige Erklärung zu nennen, wie Zwang bei Heirat und Ehe zustande kommt, stellt eine Verengung dar. Schliesslich sind auch Fälle aus verschiedenen religiösen Gemeinschaften bekannt.

In der Schweiz zum Beispiel sind Angehörige verschiedener Glaubensrichtungen betroffen: Hinduistische Tamil*innen, christlich-orthodoxe Assyrer*innen und Aramäer, muslimische oder katholische Kosovar*innen, orthodoxe jüdische Personen, sunnitische Türk*innen und alevitische Kurd*innen.

Zwangsheirat hat viel mit traditionellen, patriarchalen und familialistischen Vorstellungen zu tun. Traditionen werden oft auch gerade von streng religiösen Menschen, Familien und Gesellschaften hochgehalten. Die Religion wird dann als letzte und oberste Argumentationsinstanz missbraucht.

Prinzipiell findet sich im Islam als einzige Weltreligion eine Quelle mit einem expliziten Verbot einer Zwangsheirat. Theologisch gesehen ist es im Islam so, dass Zwangsheiraten in einem Hadith, einer Nachlieferung von Mohammed, explizit verboten sind. Es gibt aber auch die Regel, dass eine Muslima keinen Nicht-Muslimen heiraten soll. Obschon auch dies umstritten ist – siehe zum Beispiel Yaşar Nuri Öztürk, in seinem Buch «Der verfälschte Islam». Solche Vorschriften können zu Zwangsheiraten führen. Im Alten Testament der Bibel sind Zwangsheiraten in gewissen Fällen vorgeschrieben. Im Neuen Testament kommen diese aber nicht mehr vor. Dennoch haben einige traditionalistisch-konservative christliche Gemeinschaften Mühe mit der Sexualität vor der Ehe – ein Faktor, der ebenfalls zu Zwangsheiraten als Disziplinarmassnahme führen kann. Im Hinduismus ist das Heiraten ausserhalb der eigenen Kaste gemäss der heiligen Schrift Bhagavad Gita unmöglich. Beispielsweise existieren im tamilischen Gebiet Jaffna in Sri Lanka 216 Kasten und es darf nur innerhalb derselben Kaste geheiratet werden. Diese enge Orientierung bedeutet ein Endogamiezwang und kann demnach zu Zwangsverheiratungen führen, weil die Wahl der in Frage kommenden Heiratspartner*innen klein ist.

Aber auch bei konservativen Religionsgemeinschaften entstehen Diskussionen: So gibt es bei den orthodoxen Jüdinnen und Juden die sogenannte «ultraorthodoxe» Strömung, aber ebenso eine «open orthodoxy» und «modern orthodoxy». Auch Religion ist wandel- und aushandelbar.

Literatur:
Reza Aslan. 2006. Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München, S. 90f.
Yaşar Nuri Öztürk: Der Verfälschte Islam. Grupello Verlag, S. 119.

Sind Zwangsheiraten ein neues Phänomen?

Zwangsheiraten in dieser Form sind in der Schweiz ein neues Phänomen. Allerdings ist jede Heirat in jeder Gesellschaft von spezifischen Normen und Erwartungen des Umfelds geprägt. Zum Beispiel heiraten auch heute Akademiker*innen meist untereinander, also im selben bildungs- und sozioökonomischen Milieu. Obwohl Zwänge rund um Heirat und die Wahl des Ehepartners oder der Ehepartnerin in westeuropäischen Gesellschaften in früheren Jahrhunderten natürlich stärker ausgeprägt waren.
Zum Beispiel machte eine Schwangerschaft in der Schweiz des 19. Jahrhunderts eine Heirat unabdingbar (shotgun wedding). Punkto Sexualkontakte vor der Heirat hatte man allerdings zu dieser Zeit eine überraschend liberale Einstellung: Dies zeigt sich etwa in der Tradition des «Kiltgangs», dem nächtlichen heimlichen Treffen eines Liebespaares in der «Stube» der jungen Frau, auf welches alleine keine Sanktionen – etwa in Form einer erzwungenen Heirat – folgten.

Im europäischen Adel kamen arrangierte Ehen, die teilweise auch gegen den persönlichen Willen der Betroffenen geschlossen wurden, häufig vor. Ein bekanntes, jüngeres Beispiel dafür ist die Ehe zwischen dem englischen Thronfolger Prinz Charles und der inzwischen verstorbenen Prinzessin Diana. Neu ist aber, dass Zwangsheiraten in Einwanderungsgesellschaften im Zusammenhang mit Migrant*innen thematisiert werden. Auch die Schweiz ist eine Einwanderungsgesellschaft. Gemäss der Bundesstudie zu Zwangsheiraten in der Schweiz von 2012 wurden 38% der Betroffenen in der Schweiz geboren, 76% verfügen über die Niederlassungsbewilligung C. Bei der Fachstelle Zwangsheirat sind zur Zeit ca. 80% der Betroffenen in der Schweiz geboren und/oder aufgewachsen.
Die Tatsache, dass auch diese Personen mit Migrationshintergrund oft endogamisch – also innerhalb der eigenen Herkunftsgruppe – heiraten, muss neu ergründet werden. Auf diese Weise repetieren sich die Erfahrungen der ersten Generation (Da Capo-Effekt). Es können aber auch bei der zweiten oder dritten Generation Rückschritte entstehen. Beispielsweise können Erfahrungen von Diskriminierung auch zur Rückbesinnung auf die Herkunftskultur und/oder –religion der Eltern führen. Wir sprechen dann von Neo-Traditionalisierung oder Neo-Religionisierung. Dieser Bezug kann positiv sein, kann aber auch überstarke Formen annehmen, in deren Konstellation auch Zwangsheiraten wieder verstärkt vorkommen können. Hier haben wir es also nicht einfach mit einem Herkunfts-, sondern mit einem Diasporaeffekt zu tun. Siehe oben bei Frage Nr. 1.
Auch in den Herkunftsländern können punkto Menschenrechte Rückschritte stattfinden, die sich durch die migrantischen Gemeinschaften aus diesen Ländern auch auf die Schweiz auswirken können. Beispielsweise ist in der Türkei die Diskussion im Gange, das Ehemündigkeitsalter von 18 Jahren aufzuheben und religiöse Heiraten zu erlauben. Siehe mehr dazu bei «Ursachen».

Können Gesetze Zwangsheiraten verhindern?

Rechtliche Massnahmen gegen Zwangsheiraten sind Begleitmassnahmen, die je nach Art des Gesetzes gegebenenfalls das Unrechtsbewusstsein zu schärfen vermögen oder auch abschreckend wirken können. Auch internationale Konventionen definieren die Menschenrechtsverletzung der Zwangsheirat, siehe beispielsweise das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen  und häuslicher Gewalt, die sogenannte Istanbul-Konvention. Mit rechtlichen Regelungen alleine, sei es auf internationaler oder nationaler Ebene, können aber Zwangsheiraten kaum verhindert werden.

Die Betroffenen wollen die Zwangsverursachenden – ihre Väter, Mütter, Familienangehörigen und Verwandten – in den allermeisten Fällen nicht anzeigen. Dass Zwangsheirat als Offizialdelikt und Verbrechen, das von Amtes wegen verfolgt werden muss, geahndet wird – in der Schweiz gemäss Art. 181a des Strafgesetzbuches (StGB) – kann in diesem Sinne auch bewirken, dass Betroffene davor zurückschrecken, sich Unterstützung bei einer Beratungsstelle zu holen. Anlauf- und Beratungsstellen stehen jedoch gemäss Art. 11 des Opferhilfegesetzes (OHG) unter einer strengen Schweigepflicht. Dies und weitere Informationen sind wichtig, um die Betroffenen zu motivieren, aus ihrer Zwangssituation auszubrechen und für ihre Rechte der freien Partner*innenwahl einzustehen. Es braucht eine Ansprache der Betroffenen, damit sie wissen, wohin sie sich zur Unterstützung wenden können, sowie eine Sensibilisierung und Information der breiten Bevölkerung und des Umfeldes der Betroffenen. Denn oft wenden sich (potenziell) Betroffene von Zwangsheirat zuerst an Personen aus dem sozialen Nahraum: Freund*innen, Lehrpersonen oder Arbeitgebende. Mehr zu den Gesetzen rund um den Schutz vor Zwangsheirat in der Schweiz und in anderen Ländern lesen Sie unter «Rechte und Gesetze».

Was hat Zwangsheirat mit Integration zu tun?

Zwangsheirat wird oft im Zusammenhang mit Integration diskutiert.
Zwangsheiraten kommen allerdings auch in «gut integrierten» Familien mit Migrationshintergrund vor. Meist ist mit «Integration» die sozioökonomische Integration gemeint, dass Migrant*innen in den Arbeitsmarkt integriert sind. Vielleicht pflegen diese Familien ausserhalb der Arbeitswelt kaum Kontakte zu anderen Gruppen und leben nach starken traditionalistisch-familialistischen Normen und Einstellungen ihrer Herkunftskultur(en). Und auch eine höhere Bildung kann Zwangsheiraten nicht ausschliessen. Beispielsweise hatten wir in unserer Beratungspraxis eine Betroffene aus Südasien, die einen Doktortitel hatte.

Die sozioökonomische oder Bildungsintegration sagt also wenig über die gesellschaftliche Integration aus. Das Vorkommen von Zwangsheirat kann also als ein Zeichen einer nur teilweisen und unvollständigen Integration gesehen werden. Die Akzeptanz von Menschenrechten und der Menschenwürde wird in solchen Fällen dem Aufrechterhalten von Normen und Traditionen rund um Heirat untergeordnet. Die Frage, ob Zwangsheiraten in der Schweiz akzeptiert werden, erübrigt sich. Spätestens seit ihrem Verbot vom 1. Juli 2013 gemäss Art. 181a StGB. Siehe «Rechte und Gesetze». Manchmal sind die Aushandlungen und Diskussionen dazu jedoch kontrovers und intensiv. Wenn die schweizerische Mehrheitsgesellschaft migrantische Minderheiten pauschal als rückständig betrachtet, weil bei einigen von ihnen Zwangsheiraten vorkommen; wenn einige traditionalistisch-konservative Migrant*innengruppen die schweizerische Mehrheitsgesellschaft aufgrund des liberalen Umgangs mit der Sexualität vor der Ehe als dekadent anschauen und wenn von Zwangsheirat betroffene Personen ihre eigene Herkunftskultur aufgrund ihrer Erfahrungen abzulehnen beginnen, dann wird ein Phänomen wie die Zwangsheirat zum Spaltpilz. Deshalb ist die Orientierung an der Menschenwürde und am Menschenrecht der freien Partner*innenwahl für alle in der Schweiz zentral. Auch wenn das anspruchsvoller ist als simple Ablehnung und Ausländerfeindlichkeit. Dies bildet eine Basis für gemeinsame Diskussionen und Weiterentwicklungen und damit für den sozialen Kitt, der eine vielkulturelle Gesellschaft zusammenhält.

Die Orientierung an Menschenrechten und -würde ist sozusagen die «Krönung der Integration». Weitere Ursachen finden Sie hier.

Was tun gegen Zwangsheiraten?

Das Recht auf die freie Wahl des Partners beziehungsweise der Partnerin ist ein Menschenrecht (Artikel 16 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948) und gilt als eine fundamentale Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Dieses Recht gilt für alle Personen in der Schweiz, ohne Unterschied. Die Thematisierung von menschenrechtsverletzenden Praktiken wie der Zwangsheirat ist deshalb zentral.

Nebst rechtlichen Massnahmen ist vor allem die Ansprache der Betroffenen und die Sensibilisierung der breiten Bevölkerung wichtig. Denn nicht allen ist bewusst, dass Zwangsverheiratungen nicht nur anderswo, sondern auch hier in der Schweiz stattfinden. Fachpersonen müssen informiert werden, wie sie vorgehen sollen, wenn sie in ihrem Berufsalltag auf Zwangsheirat stossen.

Verbunden mit der Diskussion zu Zwangsheirat können auch andere Themen aufgegriffen werden, die in unserer vielkulturellen Gesellschaft potenziell gegenseitiges Unverständnis auslösen können. Beispielsweise Themen wie Sexualität , Jungfräulichkeit, Homosexualität, Vorstellungen von Ehre und so weiter. Was wir tun und wie wir das Phänomen Zwangsheirat beispielsweise in Weiterbildungen, Schulworkshops oder öffentlichen Kampagnen thematisieren, lesen Sie hier. Was sich allgemein in der Schweiz und im Ausland gegen Zwangsheirat tut, finden Sie unter «was andere tun».