Im Folgenden präsentieren wir Ihnen einige – wie wir meinen – «Fehlannahmen», die bei der Diskussion um Zwangsheirat und –ehe von ganz unterschiedlichen Personen vertreten werden. Es ist uns ein Anliegen, diesen Fehlannahmen eine differenzierte Sichtweise gegenüberzustellen, um so das Problem von Zwangsheirat und –ehe vertiefter zu verstehen und diese Menschenrechtsverletzung zu bekämpfen.
Fehlannahmen, die die Fachstelle Zwangsheirat zu widerlegen versucht:
- Zwangsheirat kommt hauptsächlich bei Zugewanderten der ersten Generation vor und verliert sich über die zweite und dritte Generation ohnehin.
Unsere Position: Zahlreiche konkrete Fälle belegen, dass diese Annahme falsch ist. Gerade Personen der zweiten oder dritten Generation stehen bisweilen unter der Aufsicht ihrer Verwandten oder einer Community, die sie unter Druck setzen, eine bestimmte Person zu heiraten. Zudem ist es häufig so, dass Personen der zweiten oder dritten Generation im Zuge einer «Neo-Traditionalisierung», also einer neuen Hinwendung zu Traditionen und damit z.T. auch einer Hinwendung zu überkommenen Praktiken, zum Beispiel besonders strenge Heiratsregeln formulieren und deren Einhaltung erzwingen.
- Arrangierte Ehen kamen ehemals auch in der Schweizer Mehrheitsgesellschaft vor. Es ist also eine Frage der Zeit, bis sie auch bei Migrantinnen und Migranten nicht mehr praktiziert werden.
Unsere Position: Es stimmt, dass das Ideal der Liebesheirat eine «Erfindung» des 18. und 19. Jahrhunderts ist. Die Situation von Menschen, die heute zwangsverheiratet werden, ist aber nicht vergleichbar mit der Situation arrangierter oder erzwungener Ehen im Schweizer Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts. Einerseits ist die Migration, und damit die Dynamik zwischen Herkunftsland, Aufnahmeland und anderen Einwanderungsstaaten für die Entstehung von Zwang bei Heirat und Ehe entscheidend. Andererseits impliziert ein historischer Vergleich, dass nicht-westliche «Kulturen» Entwicklungen lediglich zeitverzögert nachvollziehen und somit hinter westlichen «Kulturen» zurückbleiben. Diese Sichtweise muss zurückgewiesen werden, da die westliche «Kultur» nicht als Massstab fungiert, an dem nicht-europäische «Kulturen» gemessen werden können.
- Die Ursachen von Zwangsheirat und -ehe sind hauptsächlich auf Religion zurückzuführen.
Unsere Position: Die Ursachen von Zwangssituationen bei Heirat und Ehe sind hauptsächlich auf eine Verstrickung von Traditionalismus, Patriarchat und Familialismus zurückzuführen. Religiöse Traditionen können dabei auch eine Rolle spielen, denn Religion beinhaltet ebenfalls eine Reihe von Traditionen. Aber Religion kann nie als einziger Faktor begründen, wie Zwang bei Heirat und Ehe zustande kommt. Wer Religion als alleinige Begründung für Zwangsheirat annimmt, verengt die Problematik und wird ihr nicht gerecht. Das muss aus unserer Sicht unbedingt vermieden werden. Schliesslich sind Fälle aus verschiedenen religiösen Gemeinschaften bekannt.
- Im Vergleich zu Afghanistan, Jemen oder der ländlichen Türkei sind die Zwangsheiratsfälle in der Schweiz nicht problematisch.
Unsere Position: Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan, Jemen, der ländlichen Türkei oder anderswo sind sicherlich schwerwiegend. Zwangsheiraten müssen aber überall bekämpft werden, auch in der Schweiz, denn jede betroffene Person leidet unter Zwangsheirat – egal ob in der Schweiz oder sonst wo auf der Welt. Anders als etwa in Afghanistan, Jemen oder der ländlichen Türkei erleben Betroffene in der Schweiz aber, dass es in der Mehrheitsgesellschaft gang und gäbe ist, aus Liebe zu heiraten. Sie werden so viel eher in ein Dilemma aufgrund unterschiedlicher, sich konkurrenzierender Moralvorstellungen kommen. Eine Person, die in einer Mehrheitsgesellschaft zwangsverheiratet wird, wo die Möglichkeit einer Liebesheirat nicht existiert, wird dies wohl weniger ausgeprägt erleben.
- Im Umgang mit Zwangsheirat und -ehe sollten besser «Respekts- oder Schlüsselpersonen» aus dem jeweiligen kulturellen Umfeld der Bedrohten und Betroffenen beigezogen werden.
Unsere Position: Die Gefahr für die Betroffenen, die von Personen aus dem gleichen Umfeld ausgeht, kann erheblich sein. Daher sollte auch vermieden werden, Personen aus dem Umfeld für Dolmetscherarbeiten hinzuziehen. Häufig ist es für Aussenstehende nicht klar, welche eigene Position eine Person aus dem Umfeld der Betroffenen in Bezug auf den Konflikt einnehmen wird. Es ist also grundsätzlich denkbar, dass ein*e Dolmetscher*in versuchen wird, die betroffene Person ebenfalls unter Druck zu setzen. Bevor also ein*e Dolmetscherin für ein Gespräch eingestellt wird, sollte man mit ihm/ihr ein Vorgespräch führen und abzuschätzen versuchen, ob er/sie eine Sensibilität im Umgang mit dieser Form der Menschenrechtsverletzung hat.
- Rechtliche Grundlagen sind die wichtigsten Massnahmen gegen Zwangsheirat und –ehe.
Unsere Position: In seinem Bericht von 2008 hat der Bundesrat noch festgehalten, dass Personen, die den Schutz nötig hätten, nicht erreicht werden können. Mit der Gesetzesänderung von 2012 hat sich die Haltung des Bundesrates geändert, was wir sehr begrüssen. Mit rechtlichen Massnahmen können aber nicht alle Probleme gelöst werden, denn in unseren Augen sind rechtliche Massnahmen lediglich Begleitmassnahmen. Im Zentrum stehen Sensibilisierung, Prävention, Intervention und Schutz. Allerdings haben Gesetzesgrundlagen oft eine Signalwirkung und Normativität, die nicht zu unterschätzen sind. Und nicht zuletzt geht es auch darum, mit rechtlichen Massnahmen die Opfer von Zwangssituationen rund um Heirat und Ehe anzuerkennen und ihnen ein Instrument in die Hand zu geben, mit dem sie ihr Selbstbestimmungsrecht wahren können.
- Die zweite und dritte Generation von Migrant*innen ist abhängig von ihren Eltern. Daher ist es schwierig, Lösungen und Auswege bei Zwangssituationen zu finden.
Unsere Position: Tatsächlich ist die zweite und dritte Generation von Migrant*innen zumindest emotional von ihren Eltern abhängig. Allerdings ist dieses Abhängigkeitsverhältnis nicht einseitig zu verstehen. Eltern sind genauso abhängig von ihren Kindern, einerseits emotional, andererseits aber auch weil die Kinder von Migrant*innen häufig über mehr Ressourcen verfügen als ihre Eltern. So verfügen die Personen der zweiten und dritten Generation häufig über mehr Wissen über die schweizerische Gesellschaft als ihre Eltern. Sie sind in der Schweiz zur Schule gegangen, haben eine Lehre oder ein Studium absolviert und sind mit grösster Wahrscheinlichkeit besser verwurzelt als ihre Eltern. Bei den uns bekannten Fällen waren zum Beispiel häufig auch die Sprachkenntnisse der Söhne und Töchter besser als die ihrer Eltern. Wir haben oft gesehen, dass Eltern im schweizerischen Alltag in gewisser Weise also auch abhängig von ihren Kindern sind. Dieses Wissen kann die Selbstbestimmung und Selbstentfaltung der Kinder fördern. Es kann auch helfen, gegenüber den Eltern sicher und selbstbestimmt aufzutreten und Schritt für Schritt Auswege aus Zwangssituationen zu finden. Manchmal gelingt es sogar längerfristig, die Eltern dafür zu gewinnen, die freie Partnerwahl ihrer Kinder zu unterstützen.