Im Kontext der Zwangsheirat ist die kollektive Kontrolle der individuellen Sexualität oft von vordringlicher Bedeutung. Dabei steht die Kontrolle der weiblichen Sexualität, idealtypisch dargestellt im Begriff der Jungfräulichkeit, im Vordergrund. Der Kult um die Jungfräulichkeit verlangt von den jungen Frauen, bis zu ihrer Hochzeit enthaltsam zu leben, ansonsten müssen sie mit Sanktionen rechnen. Dies gilt auch, wenn das Jungfrauenhäutchen (Hymen) nicht durch einen sexuellen Akt, sondern beispielsweise bei sportlicher Betätigung beschädigt wurde.
Geschlechterspezifische Sexualnormen
Der Alltag der jungen Frauen wird oft stärker kontrolliert als der ihrer männlichen Altersgenossen. So werden insbesondere die Beziehungen zu aussenstehenden Männern reglementiert. Männliche Jugendliche erfahren dagegen oft weit weniger Handlungseinschränkungen und werden bisweilen auch mit der Aufsicht über ihre Schwestern betraut. Solche geschlechtsspezifischen Sexualnormen zeugen unter anderem von patriarchalen und ganz allgemein von traditionalistischen Strukturen. Nicht selten sind es indessen auch die weiblichen Familienmitglieder, welche diese verinnerlichten Traditionen pflegen und ihre Kinder danach erziehen.
Kontrolle der weiblichen Sexualität vor der Heirat
Besonders konfliktträchtig erweist sich in einem traditionellen Umfeld für junge Frauen die Phase der Pubertät: Eltern und Umfeld versuchen allfälligen zwischengeschlechtlichen Kontakten vorzubeugen. Die Beschneidung und das anschliessende Zunähen der Vagina ist wohl das extremste Mittel zur Kontrolle der weiblichen Sexualität, mithin zur Bewahrung der Jungfräulichkeit. Eine andere Möglichkeit ist die (Früh-)Verheiratung. So können Eltern ihre Verantwortung für die Ehrbarkeit der Tochter und damit für die Familienehre abgeben. Je jünger nämlich die Braut, so die entsprechende Maxime, desto unwahrscheinlicher sind voreheliche sexuelle Erfahrungen. Eine rituelle Heirat besiegelt das eheliche Bündnis und begründet ein legitimes sexuelles Verhältnis. In der Schweiz stellte die Verlobung, vorab in bäuerlichen Kreisen, während Jahrhunderten eine ähnliche Form dar: Sie erlaubte ein sexuelles Verhältnis vor der eigentlichen Heirat. Mit dem Erreichen des legalen Heiratsalters wird die rechtlich anerkannte Heirat nachgeholt. Oft gehört zu einer rituellen Heirat, dass in der Hochzeitsnacht der Beweis der Jungfräulichkeit erbracht werden muss. Auf diesen intimen Kontakt, der von einer familiären Öffentlichkeit kontrolliert wird, sind die Brautleute kaum oder nicht vorbereitet.
Leistet eine Braut Widerstand gegen die vorgesehene Heirat, kann das als Indiz dafür genommen werden, dass sie etwas zu verbergen hat, womöglich nicht mehr Jungfrau ist. Das setzt sie unter psychischen Druck, das Gegenteil beweisen zu müssen. Andererseits sind verschiedene Fälle dokumentiert, in denen junge Frauen mit der Behauptung, keine Jungfrau mehr zu sein, erzwungene Hochzeiten verhindern konnten – allerdings um den Preis ihrer Familienzugehörigkeit.
Auch die katholische Kirche bestrafte junge Frauen für sexuelle Freizügigkeit. Sie unterhielt bspw. in Irland bis vor wenigen Jahrzehnten Erziehungsheime, sogenannte Magdalenen-Heime, in welchen Mädchen ihre (angeblichen) Sünden mit harter Zwangsarbeit «abtragen» mussten.
Jungfräulichkeitskult versus sexuelle Freizügigkeit
Der Jungfräulichkeitskult wird nicht nur in den Herkunftsländern, sondern auch in der Migration gelebt und dabei als Gegenmodell zur «westlichen» sexuellen Freizügigkeit verstanden. Eine türkische Mutter drückte dies in einem Interview mit Necla Kelek folgendermassen aus: «Die Deutschen lassen ihre Kinder frei und fast nackt herumlaufen. Dann sollen sie sich nicht wundern, wenn sie Drogen nehmen und Prostituierte werden.» Als Reaktion auf die liberale Sexualmoral der Mehrheitsbevölkerung versuchen manche migrantische Milieus oder Familien, die eigenen Werte umso intensiver zu bewahren.
Revirginiation: medizinische Rekonstruktion der Jungfräulichkeit
Doch auch in traditionellen Kreisen halten sich nicht alle unverheirateten Frauen an das Gebot der Jungfräulichkeit. Um den Ruf der Familie nicht zu schädigen und um eine Strafe zu vermeiden, halten sie ihre sexuellen Erfahrungen jedoch meistens geheim. Steht dann die Hochzeit an, wenden sich manche Frauen an Ärzt*innen, um sich ihr Jungfernhäutchen zusammennähen zu lassen und als «Schein-Jungfrau» in die Ehe eintreten zu können. Man bezeichnet dies auch als Revirginiation.
Auch in der Schweiz werden vereinzelt solche «Hymenalrekonstruktionen» durchgeführt, bspw. an der Frauenklinik des Universitätsspitals Basel. Schweizer Spitäler nehmen diese Operation aber nicht in jedem Fall vor. Es muss schon eine Gefährdung für die Frau vorliegen. Die Kosten für den Eingriff haben die Frauen selbst zu übernehmen, sie betragen zirka CHF 1’000.-. Am Universitätsspital Zürich wird dieser Eingriff aus prinzipiell-ethischen Gründen nicht durchgeführt. Die Begründung lautet: Dadurch würde ein Umdenken verhindert. Stattdessen sollten die Frauen zu ihrer selbstbestimmten Sexualität stehen. Deshalb legt man grösseres Gewicht auf Aufklärung.
Auch in Deutschland werden (immer mehr) Ärzt*innen für diesen Eingriff angefragt. Manche scheuen nicht davor zurück, diese Leistung auf ihrer Homepage anzubieten. Unter US-Amerikanerinnen gibt es sogar einen neuen Trend zur Revirgination. Gynäkolog*innen vermarkten diese Leistung in Magazinen, lokalen Zeitungen und über das Internet.
Die moderne Medizin ermöglicht so zwar einen pragmatischen Umgang mit einschränkenden Verhaltensregeln. Doch sie stützt damit auch einen auf Doppelmoral aufbauenden Lebensstil, den nicht wenige junge Migrant*innen aus ursprünglich traditionellem Milieu verinnerlicht haben.